Forschungen zur europäischen Kulturgeschichte sind methodisch und epistemologisch hoch anspruchsvolle Unterfangen. Zu den zahlreichen Voraussetzungen zählt die grundlegende Fähigkeit, souverän mit Quellen umzugehen, die von der Antike bis hinein in die frühe Neuzeit oftmals in lateinischer Sprache vorliegen, in ihrer konkreten Gestalt Gattungskonventionen folgen, bisweilen durch eine bestimmte Fachterminologie geprägt und in verschiedenen Medien überliefert sind. Die Grundlagen für diese Fähigkeit zu schaffen, ist von der Schule (vom Latein- und Geschichtsunterricht) nicht mehr zu erwarten. Beständige Lektüre der Texte, von denen die Gedankenbewegungen der europäischen Kulturgeschichte ausgehen und an sie immer wieder neu anknüpfen - das baut Berührungsängste ab! Zu diesen Texten zählen die Biblia Vulgata, die Corpora iurs civilis und canonici sowie platonische und aristotelische Philosophie, wie sie dem Mittelalter etwa durch Augustinus und Boethius vermittelt wurde. Eine regelmäßige Lektüre dieser Hauptreferenztexte, besonders aber auch der an sie angelehnten Werke erzeugt zudem eine gewisse Vertrautheit mit der Sprache, mit unterschiedlichen Systemen gegenseitiger Verknüpfung und mit den historisch sehr verschiedenen Paradigmen des Argumentierens.
Das Format der Veranstaltung »Gattungsgeschichtliche Streifzüge durch die juristische Fachprosa« ist praktisch ausgerichtet. Es wird nicht um die theoretische Reflexion der Genese historischer Erkenntnis gehen, sondern darum, Texte als Texte zu lesen, mithin als schriftliche Äußerungen zu verstehen, die den Gesetzen einer bestimmten Sprache und Gattung gehorchen. Anders als in historischen Methodenübungen stellen wir uns nicht die Frage, wie man auf Basis der »Informationen« einer »Quelle« Wissen über Vergangenes rekonstruiert.
Stattdessen sollen die Texte als Kontexte solcher »Informationen« betrachtet werden. Ziel dieser Herangehensweise ist es, kontextsensibles Denken und Sprechen über (je nach Erkenntnisinteresse variierende) Elemente eines lateinischen Texts zu ermöglichen. Im Zentrum der Übung stehen juristische Texte aus verschiedenen Gattungen. Wir werden diese Texte wissenschaftsgeschichtlich einordnen sowie ihre Organisation, ihre Prosa (Latinität) und ihre Argumentationsstruktur analysieren. Wir werden Texte der sogenannten Kirchenväter lesen, die Eingang ins Decretum gefunden haben, ferner Stücke aus Petrus Lombardus, Thomas und Bartolus, schließlich Auszüge aus spanischen Spätscholastikern wie Molina, Lessius und Suárez. Die bildungsgeschichtliche Kontextualiserung zu Beginn einer Sitzung wird uns vielleicht auch Gelegenheit bieten, allerhand philologische Grundkenntnisse aufzuarbeiten.
Grammatische Grundkenntnisse des Lateinischen sind Teilnahmevoraussetzung. Vokabellisten zu den einzelnen Texten verteile ich zu Beginn einer Sitzung; handelt es sich um frühe Drucke oder Handschriften, stelle ich eine Liste gängiger Abkürzungen zur Verfügung.
- Lehrende/r: Konstantin Liebrand