Erinnerung und Gedächtnis sind essenziell für das Leben und die Identität von Individuen, aber auch von Gemeinschaften. In den letzten Jahrzehnten hat sich die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung erheblich ausdifferenziert und zahlreiche Ansätze und Gedächtniskonzepte entwickelt. Dazu gehören insbesondere Konzepte wie das kollektive Gedächtnis (Maurice Halbwachs), die lieux de mémoire (Gedächtnisorte; Pierre Nora), das kulturelle Gedächtnis (Jan Assmann) und das Funktions- vs. Speichergedächtnis (Aleida Assmann), mithilfe derer sich die Dynamiken von Erinnern und Vergessen analysieren lassen. Denn Gedächtnis ist nicht einfach ‚da‘, sondern es wird kontinuierlich produziert bzw. konstruiert, abhängig von historischen, politischen und kulturellen Bedingungen und Interessen. Im Fokus der Untersuchung stehen daher nicht (nur) die erinnerten Inhalte, sondern insbesondere die Erinnerungspraktiken, ihre Voraussetzungen, Akteure und Medien.

In literarischen Texten sind (individuelle und kollektive) Erinnerungen omnipräsent, und Literatur und Kunst spielen eine zentrale Rolle für Erinnerungsdiskurse und -kulturen. Literarische und künstlerische Arbeiten nehmen Motive und Interpretationen aus Erinnerungsdiskursen auf, verarbeiten sie – sei es affirmativ oder subversiv – und wirken wiederum auf den öffentlichen Diskurs zurück.

Im Seminar werden wir uns einerseits mit theoretisch-methodischen Ansätzen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung beschäftigen. Auf der anderen Seite diskutieren wir anhand ausgewählter literarischer und künstlerischer Arbeiten, wie Erinnerung im jeweiligen Kontext produziert, ausgestaltet und inszeniert wird. Welche Diskurse werden aufgegriffen, in welcher Form und mit welcher Absicht? Inwiefern tragen der Rückgriff auf Erinnerungen und die Konstruktion von Gedächtnis zur zukünftigen Gestaltung von Politik und Gesellschaft bei? Auf welche Motive und Erinnerungsorte greifen etwa palästinensische Autor*innen zurück, um gegen den dominanten Diskurs zu Palästina/Israel anzuschreiben, die eigene Geschichte und Gegenwart sichtbar zu machen und die zukünftige Anerkennung der Identität und Präsenz, im Land wie im Exil, zu reklamieren? In welcher Form kritisieren Autor*innen und Konzeptkünstler*innen im Nachkriegslibanon – direkt oder indirekt – die fehlende Aufarbeitung der Gewalttaten und traumatischen Erlebnisse während des Bürgerkriegs (1975-90)? Mit welchen Strategien setzen sie der verordneten ‚Amnesie‘ individuelle oder kollektive, faktische oder fiktive Erinnerungen entgegen? Welche Quellen und welche Erzählstrategien verwenden algerische Autor*innen – angesichts fehlender einheimischer, insbesondere weiblicher Stimmen im kolonialen Archiv –, um die Kolonialgeschichte und ihre Auswirkungen bis in die Gegenwart aufzuarbeiten? Durch die Diskussion exemplarischer Werke aus unterschiedlichen Regionen der arabischen Welt, von der Mitte des 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart, bietet das Seminar zugleich einen Einblick in die Vielfalt der modernen arabischen Literatur- und Geistesgeschichte und vermittelt literatur- und kulturwissenschaftliche Methodik.

Literatur zur Einführung: Arabistik. Eine literatur- und kulturwissenschaftliche Einführung, hg. v. Yvonne Albers u. a. (2021); Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung (2016); Markus Fauser: Einführung in die Kulturwissenschaft (2008), Kap. VI: Gedächtnistheorien; Angelika Neuwirth, Andreas Pflitsch, Barbara Winckler (Hg.): Arabische Literatur, postmodern (2004); Modern Arabic Literature, hg. v. M. M. Badawi, Cambridge 1992 (CHAL).

Kurs im HIS-LSF

Semester: SoSe 2023