Spät setzt in der heute als Skandinavien bezeichneten Region Europas die schriftliche Überlieferung ein, wenn man von den im Umfang begrenzten Runeninschriften absieht. Für die Produktion von Büchern und Literatur waren die Annahme des Christentums ab dem 10. Jahrhundert und die Etablierung kirchlicher Einrichtungen im Laufe des 11. Jahrhunderts die Grundvoraussetzung. Im Verhältnis zu Mittel- und Westeuropa ist das spät; dafür entsteht dann vor allem auf Island sehr rasch eine reiche Literatur, und zwar nicht in der dominierenden Universalsprache Latein, sondern in der gesprochenen Lokalsprache. Zugleich ist das Bewusstsein um die späte Annahme des Christentums und die Plünderfahrten (víking) der eigenen Vorfahren in Skandinavien lebendig und wird in eigene Identitätskonstruktionen integriert. Die Vorlesung begibt sich nicht allein auf die Spuren der exklusiven Literaturgattungen Edda, Saga und Skaldendichtung und die Gründe für ihr Entstehen, sondern vermittelt einen Überblick über die kulturgeschichtliche Umgebung, die diese Texte hervorbrachte. Dabei spielen auch und gerade die weniger „genuin“ erscheinenden Textsorten, Übersetzungen von höfischen Geschichten, Heiligenleben, Gesetze, aber auch lateinische Texte eine wichtige Rolle, lassen sie doch die Frühzeit der skandinavischen Literaturen als eine Zeit kulturübergreifender Verflechtung erkennbar werden und machen die Besonderheit der skandinavischen Literaturen so erst begreifbar. Es zeigt sich, dass in dieser Frühzeit die Grundlage für ein skandinavisches Sonderbewusstsein im europäischen Kontext gelegt wird, das von der kontinuierlichen Neuformung der Texte in späteren Handschriften über die wissenschaftliche Neuentdeckung, die ideologische und identitäre Vereinnahmung bis hin zur ästhetischen Rezeption bis heute immer wieder aktualisiert wird.
Beginn: 12.10.2022
- Lehrende/r: Roland Scheel