Wie unterscheiden wir in konkreten Fällen und insbesondere in politischen Fragen was wahr oder falsch, gut oder schlecht ist? Hannah Arendts Antwort auf diese Frage lautete: durch Urteilskraft. Was Kant eigentlich als ästhetisches Vermögen konzipiert hatte, wendet Arendt politisch: Urteilskraft ist für sie eine Art sechster Sinn, „der unsere anderen fünf Sinne und die radikale Subjektivität des sinnlich Gegebenen in ein objektives Gemeinsames und darum eben Wirkliches“ verwandelt. Es handelt sich, wenn man so will, um die ins einzelne Subjekt verlagerte Fähigkeit zur Übernahme der Perspektiven anderer. Sie befähigt Individuen dazu, die Blickwinkel möglichst vieler anderer zu berücksichtigen, damit aber auch, vom eigenen Standpunkt zu abstrahieren und das Beurteilte aus ganz vielen verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Diese Fähigkeit nennt Arendt auch „Einbildungskraft“ oder mit Kant „erweiterte Denkungsart“. Sie stellt für sie die politische Fähigkeit „par excellence“ dar.
Aber was genau ist eigentlich politische Urteilskraft? Handelt es sich um eine angeborene Fähigkeit oder um eine solche, die man zunächst erlernen muss? Und wie funktioniert Urteilskraft? Diesen und anderen Fragen will dieses Lektüreseminar nachgehen. Dafür lesen und diskutieren wir vor allem die beiden einschlägigen Primärtexte: Kants Kritik der Urteilskraft (in Auszügen) und Arendts als dritten Teil ihres Werkes Vom Leben des Geistes geplanten Band Das Urteilen. Zum Schluss des Seminars wird ein Ausblick auf aktuelle Interpretationen dieses Konzepts geworfen, wie sie zum Beispiel Linda Zerilli in ihrem Buch A Democratic Theory of Judgment vorgelegt hat.
Zur Einführung empfohlen:
Kant, Immanuel (2009): Kritik der Urteilskraft. Felix MeinerVerlag: Hamburg.
Arendt, Hannah (2020): Das Urteilen. Piper Verlag: München.
Anforderungen für die Teilnahmebestätigung:
1) Regelmäßige Teilnahme:
- Die gründliche Lektüre der Texte ist für eine gute Seminar-Diskussion unabdingbar! Die jeweils unter „Textgrundlage“ aufgeführten Texte sind obligatorisch und bilden die Basis für die Diskussion im Seminar. Die unter „Hintergrund“ aufgeführten Texte empfehle ich darüber hinaus zum freiwilligen Selbststudium.
- Alle obligatorischen Texte werden im Learnweb zu Verfügung gestellt.
2) Anfertigung von zwei „Memos“
- In diesem Seminar werden keine Referate gehalten. Stattdessen legen alle Teilnehmer*innen im Verlauf des Seminars zwei „Memos“ vor.
- Ein Memo bezieht sich jeweils auf den zum jeweiligen Termin im Seminar diskutierten Text. Auf ca. 3-4 Seiten (Times New Roman, Schriftgröße 12, Zeilenabstand 1,5) soll sich mit der Seminarlektüre auseinandergesetzt werden.
- Wie Sie die Textgrundlage genau erschließen, bleibt Ihnen überlassen: Sie können entweder die Hauptthesen des Textes skizzieren oder einen einzelnen Aspekt herauszugreifen und vertiefen. Auch können kritische (Nach-)Fragen an den Text gerichtet werden – hierbei kann es sich ausdrücklich auch um Verständnisfragen handeln. Außerdem schließen diese Vorschläge einander nicht aus, idealerweise legen Sie ‚Mischformen’ vor (z.B. könnten zwei Seiten lang die Hauptthesen des Textes referiert und dann auf einer Seite kritische Nachfragen an diesen gerichtet werden o.ä.).
- Wichtig ist, dass es sich um einen Fließtext handelt und nicht um Stichpunkte. Die Memos sind auch als Schreibübung gedacht.
- Die Memos müssen spätestens am Abend vor dem jeweiligen Sitzungs-Termin per E-Mail an mich geschickt werden, damit ich sie vor der Sitzung lesen kann.
- Die Studierenden, die Memos zu einer Sitzung geschrieben haben, sind in der entsprechenden Sitzung zugleich „Expert*innen“. D.h. sie sollten verstärkt in die Diskussion eingreifen und in der Lage sein die Thesen ihres Memos oder darin aufgeworfene Fragen ggf. spontan vorzustellen.
- Wann und zu welcher Sitzung die Memos vorgelegt werden, steht Ihnen frei. Denken Sie bitte daran, dass Verpflichtungen und Abgabetermine zum Semesterende hin in der Regel eher mehr, denn weniger werden.
Anforderungen für die Prüfungsleistung
- 1) + 2) + Hausarbeit nach Maßgabe der Prüfungsordnung
- Lehrende/r: Tobias Albrecht