Diagnostische Verfahren bestimmen heute die Entscheidungsfindung in vielen Bereichen. Dies ist nicht nur in Me­dizin und Psychologie der Fall; Methoden der Leistungsdiagnostik fundieren die No­ten­gebung in Schu­le und Universität und Messungen von Lebensstandard und Lebensqualität moti­vie­ren und rechtfertigen politische Entscheidungen.

Während aber die Messung physischer Merkmale (wie Körpergewicht und -länge, Blutdruck, Virenlast etc.) auch bei der Einführung innovativer Diagnoseverfahren wissenschaftlich fest etabliert und in der Öf­fent­lichkeit weithin akzeptiert ist (man denke etwa an COVID-19-Testverfahren), ist die Messung mentaler Merk­male no­to­risch umstritten. Kann man Mentales überhaupt messen? Falls ja: Ist „Psychometrie“ mit der Messung phy­si­scher Merkmale ver­gleichbar? Widerspricht die Quantifizierung der menschlichen Psyche nicht un­serem Selbst­verständnis als Men­schen? Und ist es eigentlich legitim, auf Grundlage der Ergebnisse der Psy­cho­diagnostik Entscheidungen zu treffen, die den Verlauf ganzer Biographien bestimmen können?

Dieser unübersichtliche Wirrwarr an Fragen lässt sich auf zwei Grundfragen bringen: Können wir überhaupt in sinnvoller Weise die Psyche des Menschen vermessen? Und: Dürfen oder sollten wir es zulassen, dass die Er­gebnisse solcher Messungen folgenreiche Entscheidungen (mit)bestimmen? Die erste Frage markiert ein wis­sen­schaftsphilosophisches Grundproblem der Messtheorie, die zweite Frage deutet auf den ethischen Problem­kom­plex des moralisch zulässigen und politisch angemessenen Umgangs mit diag­nos­tischen Methoden hin. Bei­de Problemaspekte hängen eng miteinander zusammen. Deshalb möchte ich in diesem Seminar beide Pro­blem­aspekte gleichermaßen aus philosophischer Sicht in den Blick nehmen, um ihren Zusammenhang deutlich zu machen.

Wir werden zunächst anhand einiger klassischer Texte die philosophischen Grund­­lagen der Quantifizierung des Mentalen problematisieren. Dies ist unverzichtbar, um naive von be­rech­tig­ten Einwänden gegen psycho­diag­nos­tische Methoden unterscheiden zu können. Im zweiten Schritt werden wir dann ethische Probleme der An­wen­dung von Diagnoseverfahren in ausgewählten Handlungskontexten dis­ku­­tieren; bei der Auswahl dieser Hand­lungskontexte ist die Mitsprache der Teilnehmer:innen nicht nur möglich, sondern erwünscht.

Kurs im HIS-LSF

Semester: ST 2022