Seit etwa 1990 kann die Archäogenetik mit Hilfe der PCR-Technologie DNA aus Funden bergen, die älter als 100 Jahre sind (aDNA); um das Jahr 2003 kam die vollständige Sequenzierung des menschlichen Genoms hinzu. Seither gibt es nicht nur neue, wissenschaftlich-gelehrte Versuche, das genetische und das geschriebene Archiv zu einer zeitlich tieferen Geschichte der Menschheit zu verknüpfen. Die Genomforschung ist auch Teil populärer Geschichtskultur geworden: Mit frei verkäuflichen Genetic Ancestry Tests (GAT) versprechen kommerzielle Angebote Informationen zur ‚biogeografischen Herkunft‘ von Individuen, im Vereinswesen oder als neue Assoziationen im Internet haben sich Interessensgruppen zur „DNA-Genealogie“ formiert. Während Datenschutzfachleute auf die Sicherheitsprobleme angesichts der Reidentifizierbarkeit und des Drittbezugs genetischer Daten hinweisen, werden vergleichsweise einfach zu verwendende GEDmatch-Datenbanken überall auf der Welt mit Laborbefunden und Archivrecherchen bestückt, in der Forensik und Polizeiarbeit ebenso wie von Laien auf der Suche nach ‚meiner Familiengeschichte‘, aber auch von sozialen und politischen Bewegungen zur Legitimation von Forderungen nach Anerkennung, Zugehörigkeit, Citizenship oder Territorium.

Die Themenübung widmet sich diesem Phänomen am Beispiel der Resonanz der Genomforschung in der populären Genealogie. Im ersten Teil der Lehrveranstaltung werden wir uns mit aktuellen Fallstudien einen Überblick erarbeiten und zudem Konzepte und Begriffe zur Analyse dieses Feldes kennenlernen. Im zweiten Teil unternehmen die Studierenden selbst eine Übungsforschung. Als Quellenkorpus stehen (digitalisierte) Zeitschriften und Online-Periodika von zahlreichen lokalen, regionalen und nationalen genealogischen Vereinen zur Verfügung. Dieser Bestand ermöglicht es auch, die Fragestellung nach dem aktuellen gesellschaftlichen Ort der Genomforschung als Hochtechnologie mit einer alltags- und wissenshistorischen Perspektive zu verbinden. Von besonderem Interesse ist hier die Zeitspanne seit ca. Mitte des 20. Jahrhunderts mit der Umstellung von der Rassenanthropologie zur Populationsgenetik und nun der „Jenaer Erklärung“ (2019), da diese Entwicklung zwar wissenschaftsgeschichtlich hinlänglich untersucht ist, in ihren populären bzw. zivilgesellschaftlichen Impulsen, Formen und Resonanzen bisher aber noch im Dunkeln liegt.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2021/22