Die Einbildungskraft ist das Vermögen, sich Gegenstände und Situationen vorzustellen, auch wenn sie nicht in der Erfahrung gegeben sind. Ich nehme eine Tasse auf dem Tisch wahr, aber ich kann mir vorstellen, dass die Tasse in der Spülmaschine ist. Ich weiß, wie das Corona-Virus sich verbreitet und stelle ich mir vor, wie der Alltag geändert werden muss (vom Einkaufen bis zum Besuchen von Veranstaltung), damit das Virus sich nicht verbreiten kann. Aufgrund ihrer Beziehung zu möglichen Situationen und Gegenständen spielt die Einbildungskraft eine entscheidende Rolle in epistemischen und praktischen Prozessen: die Mutmaßung, das Gedankenexperiment, die Bildung von Hypothesen, die Handlungsplanung sowie das Einnehmen von Perspektiven, das Versetzen in andere und das kreative Denken beruhen auf der Fähigkeit, sich vorzustellen, was wäre, wenn die vorgestellte Situation der Fall wäre oder wenn eine Person an der Stelle des anderen wäre. So verstanden ermöglicht die Einbildungskraft einen Großteil des menschlichen epistemischen und moralischen Handelns. Aber genau wegen ihrer Beziehung zu dem, was bloß möglich, und deshalb nicht-existierend und fiktional, ist, ist die Einbildungskraft gleichwohl als die Hauptquelle von Fiktionen, epistemischen Fehlern, falschen Vorstellungen und psychischen Devianzen verstanden. Wie kann ein Vermögen so unterschiedliche kognitive Leistungen erbringen? Wie kann man aus nicht-existierenden, fiktionalen Situationen etwas über die aktuelle Welt erfahren bzw. verstehen, wie eine andere Person fühlt oder wie man handeln muss?
Das Seminar geht den Fragen nach der Natur und dem Erkenntnispotential der Einbildungskraft nach. Durch die Lektüre philosophischer Texte von Aristoteles, Proklos, Hobbes, Descartes, Spinoza, Cavendish, Leibniz, Du Châtelet, Hume und Kant, wird das Seminar die Komplexität des Themas entfalten und so die zeitgenössische Debatte über die kognitive und epistemische Funktion der Einbildungskraft einführen.
- Lehrende/r: Lucia Oliveri