Niemand, der einen Einführungskurs in Logik und Argumentationstheorie absolviert, kann sich davor bewahren, mit geschweiften und spitzen Klammern in Kontakt zu kommen; noch bevor man lernt, wie man einen Schluss auf seine Gültigkeit hin prüft, muss man wissen, was Mengen und Tupel, Elemente und Komponenten, Relationen und Funktionen sind, und wie man solche merkwürdigen Zeichen wie „∈“, „⊆“ und „∅“ benutzt. Auch jede Einführung in die Mathematik beginnt mit einer Einführung in die Mengenlehre – aber warum ist das so?

Sicherlich gibt es dafür viele Gründe, jedoch sind zwei davon besonders ausschlaggebend: Zum einen hat sich im Laufe der Geschichte herausgestellt, dass es in vielen Fällen notwendig ist, nicht nur über mehrere Dinge einzeln, sondern auch über sie zusammen reden zu können: Weder aus „Es regnet, oder es ist kalt“ noch aus „Es ist nicht kalt“ allein folgt, dass es regnet - aus beiden Sätzen zusammen aber schon! Um solche Sachverhalte präzise ausdrücken zu können, benötigte es ein formales System. Zum anderen gab es bereits seit dem 19. Jahrhundert Bestrebungen, eine sichere Grundlage für die gesamte Mathematik zu schaffen, und nach herben Rückschlägen suchte man auch hier eine geeignte formale Sprache. Dasjenige System, das beiden Ansprüchen gut genug gerecht wurde und sich bis heute am besten durchsetzen konnte, ist die Zermelo-Fraenkelsche Mengenlehre.

Neben der Familie der formalen Sprachen, in denen das Konzept der Menge wesentlich ist, hat sich aber auch eine weitere Familie etabliert, die man heute hauptsächlich in der theoretischen Informatik und der Linguistik wiederfindet: die von Bertrand Russell erfundene Typentheorie. Auch sie erlaubt, über mehrere Dinge zusammen zu reden, und dennoch scheinen die Systeme auf den ersten Blick völlig unterschiedlich zu sein. Sie baut nicht auf dem Begriff der Menge, sondern auf dem des Typs auf und arbeitet mit völlig verschiedenen Konzepten. Wie genau funktionieren Mengenlehre und Typentheorie aber nun, was haben sie gemeinsam, wie unterscheiden sie sich voneinander, wie sind sie genau entstanden, welche Probleme bringen sie mit sich und was hat das Ganze mit lügenden Kretern, Barbieren, dem griechischen Buchstaben „λ“ und Computern zu tun?

Genau diese (und noch viel mehr!) Fragen möchte ich mir mit euch im Rahmen dieses Arbeitskreises stellen. Dabei setze ich darauf, dass die Lektüre nicht besonders umfangreich ist, wir deren Inhalte dafür aber so tiefgreifend behandeln, dass wir ein grundlegendes Verständnis für die formalen Sprachen der Mengenlehre und Typentheorie entwickeln. Je nachdem, wie schnell wir vorankommen, sind aber auch Ausflüge in die Mereologie oder Plurallogik denkbar.


Semester: WiSe 2021/22