Diplomatie im Mittelalter. Praktiken der internationalen Verständigung WS 2020/21, Martin Kintzinger
Mittelalterliche Herrschaft war niemals „absolut“, nur auf den Willen eines Regenten bezogen, weder nach innen noch nach außen, sondern vollzog sich stets in Aushandlungs- und Abstimmungsprozessen. Im Inneren sprechen wir von sozialständischer Partizipation, im Äußeren von einer Vernetzung der Höfe, von Diplomatie und auswärtiger, internationaler Politik, sogar von Frühformen des Völkerrechts. Das so Bezeichnete war den Zeitgenossen selbstverständlich bekannt und wird in der Moderne gerade deshalb oft verkannt, weil es keine eindeutigen zeitgenössischen Begrifflichkeiten dafür gab. Anders als in der Moderne, gab es keine institutionelle Außenpolitik, aber ein weit entwickeltes, in sich differenziertes Boten- und Gesandtenwesen. Weil die Gesellschaft über personale Bindungen organisiert war, konnten auch Familienangehörige und Vertraute aus dem Umfeld des Herrschers tragende Repräsentanten der höfischen Diplomatie sein. Wenn die Herrscher zur feierlicher Vertragsunterzeichnung für den Abschluss eines Bündnisses zusammenkamen, waren Monate intensiver diplomatischer Verhandlung vorausgegangen, oft aber ergebnislos geblieben. Die erhaltenen Dokumente sind daher nur Spuren aus einem komplexen Erfahrungsfeld mittelalterlicher internationaler Diplomatie. Ohnehin mussten förmliche Vertragsverhältnisse erst allmählich zur Geltung finden, weil Heiratsdiplomatie vielfach im Zentrum der internationalen Diplomatie blieb. Während national(politische) Vorstellungen noch keine prägende Rolle spielten, entwickelte man in Abgrenzung zu der sich verdichtenden Idee königlicher Souveränität nach innen und außen die Vorstellung eines universalen, herrschaftliche Eigeninteressen überwölbenden Rechts, an das alle Fürsten gebunden sein sollten. Daraus entstanden Konzepte des Natur- und Völkerrechts, die bis heute wirksam geblieben sind.
- Lehrende/r: Martin Kintzinger