„Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit” – so heißt die deutsche Übersetzung des 1966 in den USA veröffentlichten Buches von Peter L. Berger und Thomas Luckmann, das die sozialkonstruktivistische Wende in den Sozialwissenschaften einläutete. Der Sozialkonstruktivismus zielt vor allem darauf ab zu zeigen, dass die Wirklichkeit anders als es die positivistische Wissenschaftstradition behauptete nicht (nur) aus sozialen Tatsachen oder naturgegebenen Strukturen besteht. Vielmehr ist sie das Produkt individueller Auslegungen und gesellschaftlicher Aushandlungen, die zu einer sich verändernden Sicht auf die Dinge führen. Damit gibt es kein naturgegebenes Richtig oder Falsch, kein wahres Wissen, sondern immer nur gesellschaftlich akzeptierte Interpretationen der Welt. Dass diese Theorie die Wissenschaften der 60er Jahre in eine Sinnkrise stürzten ist nachvollziehbar, in der selbstreflexiven und kritischen Wissenschaft von heute jedoch scheint die Theorie kaum noch relevant zu sein (Keller et al. 2013). Andererseits zeigen sich jedoch einige Bereiche der Politikwissenschaft resistent gegenüber interpretativen Ansätzen, wie man die Forschung im Anschluss an die Lehren des Sozialkonstruktivismus aktuell nennt (Münch 2016). So schreiben Herschinger und Nonhoff (2014) von der Politikwissenschaft als einer „im Mainstream eher positivistisch-rationalistischen Disziplin”, die sich erst in den letzten Jahren einer interpretativen Denkweise öffnet.

 

In diesem Lektürekurs lesen wir das Buch von Berger und Luckmann in der deutschen Übersetzung und erarbeiten deren Theorie sowie die aktuelle Rezeption und Weiterentwicklung. Dabei soll zunächst vermittelt werden, wie man Primärquellen erschließt und diese mit dem aktuellen wissenschaftlichen Diskurs in Zusammenhang bringt. Darauf aufbauend versuchen wir die Theorie zu rezipieren und zu kritisieren. Die Diskussion der aktuellen Implikationen des Sozialkonstruktivismus von Berger und Luckmann bildet das Ziel des Seminars.

 

Es kann eine Studienleistung in Form von Kommentaren und Textzusammenfassungen sowie eine Prüfungsleistung in Form einer Hausarbeit nach Maßgabe der Prüfungsordnung erworben werden.

 

 

 

Literatur:

 

Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas (1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main: Fischer.

 

Herschinger, Eva; Nonhoff, Martin (2014): Diskursforschung in der Politikwissenschaft. In: Johannes Angermuller, Martin Nonhoff, Eva Herschinger, Felicitas Macgilchrist, Martin Reisigl, Juliette Wedl et al. (Hg.): Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Band 1: Theorien, Methodologien und Kontroversen. Bielefeld: Transcript, S. 192–207.

 

Keller, Reiner; Knoblauch, Hubert; Reichertz, Jo (2013): Der Kommunikative Konstruktivismus als Weiterführung des Sozialkonstruktivismus – eine Einführung in den Band. In: Reiner Keller, Jo Reichertz und Hubert Knoblauch (Hg.): Kommunikativer Konstruktivismus. Theoretische und empirische Arbeiten zu einem neuen wissenssoziologischen Ansatz. Wiesbaden: Springer, S. 9–21.

 

Münch, Sybille (2016): Interpretative Policy-Analyse. Eine Einführung. Wiesbaden: Springer VS.

 

Nullmeier, Frank (2011): Politikwissenschaft auf dem Weg zur Diskursanalyse? In: Reiner Keller (Hg.): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Wiesbaden: VS, S. 309–337.

 

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2020/21