Wie weit reicht die Erotik in der Ehe, wenn der Mann eines Samstags feststellen muss, dass seine Frau ihn zwar nicht betrügt, ihr Unterleib aber die Form eines Fischschwanzes hat? Erstaunlich weit, so zumindest in der Erzählung vom Grafen Reymund und dessen Liebe zur feengleichen Meerfrau Melusine, wie sie Thüring von Ringoltingen in seinem Roman von 1456 wiedergibt. Aus der Ehe entstammen schließlich zehn Kinder, die eine ganze Dynastie begründen, obgleich sie doch alle merkwürdig entstellt sind.
Der Roman greift einen Stoff auf, der bis ins 12. Jahrhundert zurückzuverfolgen ist und über das im Mittelalter weit verbreitete Erzählschema der gestörten Mahrtenehe von der Verbindung eines sterblichen Menschen mit einem überirdischen Wesen erzählt, die aufgrund eines gebrochenen Tabus eigentlich zum Scheitern verurteilt ist. Doch früh schon dient der Stoff als mythische Ursprungserzählung eines französischen Adelsgeschlechts, und dies scheinbar unbedarft gegenüber seiner ambivalenten Anlage, die ihren Ausdruck schon in der eigentümlichen Überkreuzung von Mensch und Tier findet. Thüring von Ringoltingen schöpft aus diesem Stoff und dem dort angelegten poetischen Potenzial; und er lässt den Übergang von der Sage zum Roman geradezu nachvollziehen. Indem seine stark bearbeitete Fassung der Geschichte zwischen Phantastischem und Historischem nur so schwankt, kann er Grundbedingungen menschlicher Existenz im Wechselspiel von Glück und Schicksal verhandeln und sich Fragen nach individueller Verantwortung und zwischenmenschlichen Beziehungen widmen wie dem Verhältnis auch des Einzelnen zur Gesellschaft im Wechsel der Generationen.
Das Seminar möchte sich dem Roman in ebendiesen Spannungsfeldern von Liebe und Politik, von individuellem Begehren und kollektivem Anspruch widmen, um zuletzt den narrativen Verfahren nachzuspüren, die Gegensätzliches doch zusammenführen und dem Roman seine Faszinationskraft verleihen, die ihn zu einem Bestseller in der Frühen Neuzeit werden ließen und noch Ludwig Tieck und Goethe zu Bearbeitungen anregten. Im Nachvollzug auch von Tradition und Rezeption soll der Roman schließlich in seiner Eigenart historisch erschlossen werden.
Voraussetzung für die Teilnahme am Seminar ist die Lektüre des Romans bis Semesterbeginn sowie die Bereitschaft, sich aktiv im Rahmen von Arbeitsgruppen am Seminar zu beteiligen.
Textgrundlage: Thüring von Ringoltingen: Melusine. In der Fassung des Buchs der Liebe (1587). Mit 22 Holzschnitten. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Stuttgart: Reclam 2000 (RUB 1484).

Kurs im HIS-LSF

Semester: SoSe 2020