Die Beschreibung und Erklärung moderner Individualisierungsprozesse gehören seit Émile Durkheim und Georg Simmel zu den Kernthemen der soziologischen Theoriebildung und empirischen Gesellschaftsanalyse. Individualisierung, verstanden als Abschwächung der Determinationskraft der sozialen Herkunft und Chance der individuellen, freien Lebensplanung und -führung, ist dabei nicht unbedingt als „Verwirklichung" der immer schon vorhandenen menschlichen Freiheit thematisiert, sondern erscheint in der paradoxen Form des Zwangs zur Freiheit. Die Freisetzung von traditionalen Bindungen und der Übergang von außengeleiteten zu selbstgewählten Orientierungen der Personen werden als Teile einer Identitätsformation betrachtet, die der Tendenz nach in ansteigendem Ausmaße für die Marktteilnehmer und die Angehörigen der Zivilgesellschaft typisch wird. Gleichzeitig stellen „subjekt-kritische" Ansätze das ganze moderne Erbe des Autonomieversprechen, das im Begriff des Subjekts und in der Norm individueller Freiheit hinterlegt ist, schon lange in Frage. Historisch spezifische Formen der „Subjektivierung" und der „Individualisierung" stehen in unklarem Verhältnis zu allgemeinen systematischen Überlegungen zum Verhältnis zwischen sozialer Kohäsion und personaler Existenz. Diese Problemstellung ist Anlass für das Seminar, danach zu fragen, auf welche Weise das Verhältnis von individueller Lebensführung und gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen heute konzipiert werden kann. Dafür wird mit Rücksicht auf einschlägige Theorien der Möglichkeit nachgegangen, eine angemessene Rolle zu finden für die sozialstrukturell „erzwungene" Seite der Individualität ohne dabei, wie in postmodernen Theorien üblich, Individualität und Identität als bloße „Konstrukte" preiszugeben. Die theoretischen Betrachtungen sollen dabei in fruchtbare Beziehung mit empirischen Analysen moderner Individualität (z.B. in religiöser Hinsicht) gebracht werden.

Kurs im HIS-LSF

Semester: ST 2020