Als die 1971 gestartete westdeutsche Psychiatrie-Enquete-Kommission 1973 einen ersten Zwischenbericht vorlegte, brandmarkte dieser die „inhumanen Lebensverhältnisse“ in den alten „Anstalten“ als „brutale Realität“ und forderte „Sofortmaßnahmen“ zu deren Überwindung. Geprägt und in den Diskurs eingeführt hatte den Begriff der „brutalen Realität“ das Kommissionsmitglied Eberhard Kluge (1920-1993). Kluge hatte 1970 die Leitung des Westfälischen Landeskrankenhauses (heute: LWL-Klinik) Warstein übernommen und dort auch den Pfleger und Amateurfotografen Karl Klucken (1927-2010) kennengelernt. Das Zusammentreffen von Kluge und Klucken mündete in eine lokale Foto-Aktion, deren Ziel es war, die „brutale Realität“ im Bild festzuhalten (vergitterte Fenster, Bettensäle, heruntergekommene Toiletten etc.). Aus der Aktion gingen 122 Schwarz-weiß-Aufnahmen hervor. Diese bieten eine einzigartige fotodokumentarische Visualisierung sowohl der Missstände in der damaligen deutschen Anstaltspsychiatrie als auch einer wichtigen Etappe zu deren Überwindung. Zudem repräsentiert die Dokumentation eine Form der zeitgenössischen Psychiatriekritik, die nicht primär ‚von außen‘ kam, sondern praktisch in selbstkritischer Form ‚von innen‘ aus der „totalen Institution“ selbst. Schließlich veranschaulicht das Warsteiner Foto-Setting, wie und warum sich bestimmte Motive in das ‚Bildgedächtnis‘ der Psychiatrie eingeschrieben haben.

 

Gründe genug, einer breiteren Öffentlichkeit erstmals eine repräsentative Auswahl dieser psychiatrischen Fotografien aus der Region zu zeigen. Die Ausstellung soll aus dem vom LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte gemeinsam mit der Arbeitsstelle Forschungstransfer (AFO) der WWU veranstalteten Seminar hervorgehen. Die Übung möchte Studierenden die Gelegenheit bieten, sich kritisch mit visuellen Quellen in ihrer originalen Überlieferungsform zu befassen, unter Anleitung der Lehrenden weitgehend eigenständig die Ausstellungskonzeption und -texte zu gestalten und damit gleichzeitig auch einen innovativen Beitrag zur Sicherung des fotografischen Erbes der Psychiatrie zu leisten. Die Ausstellung soll in der mobilen Wissenschaftsbox der Arbeitsstelle Forschungstransfer („Expedition Münsterland“) gezeigt und am 13. September 2020, dem „Tag des offenen Denkmals“, auf dem Gelände der LWL-Klinik Lengerich eröffnet werden

Kurs im HIS-LSF

Semester: SoSe 2020