Die Vernunft ist ein klassisches Leitthema der Soziologie. Insbesondere in der auf Max Weber zurückge-henden Tradition gilt es als ausgemacht, dass menschliches Handeln und die Reproduktion von sozialen Strukturen nur zu dem Grad verstanden werden kann, wie es sich in einem gewissen Sinne als vernünftig erschließen lässt. Von Jürgen Habermas wird dieser Gedanke vielleicht am umfassendsten begründet und ausgearbeitet: Nur weil soziologische Interpreten über die Partikularität ihrer Lebensformen hinaus auch an allgemeiner kommunikativer Rationalität teilhaben, kann zunächst Fremdes verstanden werden. Vernunft findet sich sowohl in der Soziologie als auch in der Gesellschaft und ist deshalb das verbindende Element – nur eine vernünftige Soziologie kann die Vernunft der Gesellschaft richtig begreifen. Gleichzeitig rechtfer-tigt diese Annahme die Relevanz soziologischer Gesellschaftskritik. Weil die Gesellschaft das ihr mögliche Maß an Vernunft nicht verwirklicht und an einer vereinseitigten oder verkürzten Vernunft leidet, kann sie durch die Aufdeckung dieses Potentials auch wieder therapiert werden. Diese 'logozentrische' Sicht darauf, was die Gesellschaft auszeichnet und wie sie verstanden werden sollte, war schon immer von Gegenstimmen begleitet. Für die frühe Kritische Theorie ist die Gesellschaft sinnent-leert und unfrei, gerade weil sie so vernünftig ist. Systemtheoretische Ansätze relativieren den Begriff der Rationalität auf die Steigerungen des Auflöse- und Rekombinationsvermögens bestimmter Systeme, so dass nur die partikularen 'Systemrationalitäten' der immer genaueren Beobachtung des Wahlvolks durch die Politik, der feingliedrigeren Wahrnehmung von Absatzmärkten durch die Wirtschaft und der Steigerung von Chancen auf reflexive Wahrnehmungen durch die Kunst usw. übrig bleiben. Aus der 'archäologischen' Perspektive eines Michel Foucault lässt sich die geschichtliche Abfolge dominanter Denksysteme nicht als Lernen begreifen. Wechselnde Muster der Straflegitimation, des psychiatrischen Zugriffs auf mentale Krankheiten oder der gesellschaftlichen Normierung von Sex laufen – wenn es überhaupt einen Trend gibt – nicht auf mehr Rationalität sondern eher auf eine immer genauere Beobachtung und Zurichtung menschli-cher Körper und die Ausweitung zentralisierter Kontrollmöglichkeiten zu. Andere Autoren experimentieren damit, an die Stelle eines 'vernünftigen' Verstehens die unwahrscheinliche, 'dekonstruierende' Interpretati-on kultureller Texte zu setzen, so dass es auch aufseiten der verstehenden Wissenschaft nicht mehr auf Vernünftigkeit, sondern eher auf die Sprengung von Konventionen ankommt. In dem Seminar werden diese beiden widerstrebenden Strömungen eingeführt und am Leitfaden der Ver-nunftproblematik kontrastiert. Es werden Grundlagenkenntnisse in soziologischer Theorie sowie die Be-reitschaft, sich in anspruchsvolle Texte hineinzuarbeiten, vorausgesetzt.
- Lehrende/r: Fabian Anicker