Verstehen und Interpretieren bezeichnen zwei grundlegende Arten und Weisen der alltäglichen und der wissenschaftlichen "hermeneutischen" Auslegung des Sinnes sozialer Realität. Wird soziale Realität ausgelegt wird, so geschieht dies nicht unmittelbar, sondern meistens in einer vom Geschehen distanzierten Weise: Interaktionsvorgänge werden zunächst dokumentiert oder protokolliert und in Textform überführt – dann wird der Sinn des Textes „in der Linie des Ge-schehens” (Wilhelm Dilthey) rekonstruiert. Der soziologische Alltag der Auslegung hat es vor allem mit zweierlei Arten von Texten zu tun. Zum einen sind es die in der Forschung erhobenen und in Textform überführten Daten (z. B. Interviews, Beobachtungsprotokolle, Memos, Forschungstagebuch...), zum anderen die Texte über diese Tex-te, also Forschungsberichte, die protokollierten Interpretationen der Daten, aber auch Theoretische Texte, die in ihrer abstrakten Form der Textgattung einen oftmals kaum mehr erkennbaren Bezug zur „Empirie” haben, und dabei selber das Produkt einer spezifischen Praxis sind. Im Seminar werden zunächst die Grundlagen des alltäglichen hermeneutischen Verstehens erarbei-tet. Nach und nach werden so die methodologischen Grundlegungen des interpretativen Paradig-mas in der empirischen Sozialforschung diskutiert sowie das Problem der Medialität der Daten (Textförmigkeit, Sprachlichkeit vs. Bildlichkeit, Textsequenz vs Interaktionssequenz, Diskurs vs. Praxis...). Das Seminar legt gleichermaßen Wert auf eine Auseinandersetzung mit den durchaus un-terschiedlichen theoretischen Prämissen der diversen Ansätze sozialwissenschaftlichen Herme-neutik (vor allem: objektive Hermeneutik, wissenssoziologische Hermeneutik, rekonstruktive Sozi-alforschung sowie die am IfS Münster entwickelte Tiefenhermeneutische Makroanalyse) und der praktischen Einführung anhand der Interpretation von vorliegenden Daten in die Vorgehensweise jener Ansätze. Sofern die Seminarteilnehmer_innen eigene, im Rahmen einer Masterarbeit oder einer Hausarbeit durchgeführte Interviews im Seminar auszugsweise interpretieren wollen, sind sie dazu herzlich eingeladen.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WiSe 2019/20