Die ersten Jahre der Regierung Erdogans hatten sowohl in der Türkei als auch in vielen, insbesondere westlichen Ländern zu großen Hoffnungen geführt. Von einem Beweis für die ‚Vereinbarkeit von Islam und Demokratie‘ war die Rede. Die Vorstellung setzte sich durch, die wahre Modernisierung erfolge erst dann, wenn sie aus den authentischen Quellen der Kultur schöpfe. Max Webers Protestantismus-These wurde vergleichend herangezogen, da sie die Entstehung des modernen Kapitalismus mitunter auf religiöse Quel-len, also auf die protestantische Ethik zurückführte. Es war von "islamischen Calvinisten" und "konservati-ven Demokraten" die Rede. Diese Vision auf die „Neue Türkei“, wie Erdogan sie weiterhin benennt, wurde auch von namhaften Soziologen (z.B. Jose Casanova oder Nilüfer Göle) auf unterschiedliche Weise direkt oder indirekt gefördert. Die Entwicklung in der Türkei schien nämlich nur zu gut in den neuen soziologi-schen Diskurs zu passen, in dem die Säkularisierungstheorie korrigiert oder gar als "eurozentristisch" ver-worfen wurde. Seit 2007, spätestens aber nach den Gezi-Park-Protesten (2013) ist die positive Erwartung nunmehr der Sorge um Demokratie und Stabilität des Landes gewichen. Die Politik, die die Regierung nach dem Putsch-versuch von 2016 stärker befolgte, beendete schließlich die Zeit des Optimismus auch in Europa endgültig. Nun ist es an der Zeit, diese Phase politischer Geschichte und ihrer soziologischen Deutung genauer unter die Lupe zu nehmen. Das Seminar wird somit zweigleisig fahren. Zum einen werden wir uns mit der Politik der „Neuen Türkei“ befassen. Dabei wird vielmehr die Frage im Zentrum stehen, was für ein Menschenty-pus durch die Politik gefördert wird und welche Reaktionen darauf sich formieren. Die transnationalen Ef-fekte der Spannungen in der Türkei, die sich wie zur Zeit des türkischen Verfassungsreferendums für Deutschland als hochgradig relevant gezeigt haben, werden dabei ebenfalls besondere Aufmerksamkeit bekommen. Zum anderen werden wir einen kritischen Blick auf die soziologischen Deutungsangebote wer-fen, die sich auf diese überaus spannungsgeladene Phase der Geschichte der türkischen Republik (mit Fol-gen für das Zusammenleben in Deutschland) beziehen.

Kurs im HIS-LSF

Semester: WT 2019/20