Zweifellos tun wir ab und zu (z.B. unter starkem Druck) Dinge, die unserem Charakter nicht entsprechen. Manche Sozialpsychologen haben auf der Basis ihrer experimentellen Forschung sogar Zweifel angemeldet, ob wir überhaupt so etwas wie einen „robusten” Charakter haben. Doch bemerken wir an Menschen (einschließlich unserer eigenen Person) eben auch für sie typische Verhaltensweisen, die sie immer wieder an den Tag legen, und die andere Menschen in durchaus vergleichbaren Situationen nicht zeigen. Bedeutungsvoll ist dieser Befund vor allem für solche Handlungsdispositionen, die wir moralisch bewerten. Denken wir etwa an eine Person, die immer wieder auf falsche Versprechungen hereinfällt, trotz Warnungen ihrer Freunde und schlechter Erfahrungen: Irgendwann werden die ihr nahestehenden Menschen und am Ende vielleicht auch die Person selbst zu dem Urteil gelangen, dass mit ihrem moralischen Charakter etwas nicht in Ordnung ist, dass sie zu vertrauensselig, leichtgläubig, naiv, einfältig und unkritisch ist, vielleicht auch zu oberflächlich und nachlässig. Und ihre Familie, ihre Freunde und sie selbst werden sich fragen, wie man ihren Charakter in dieser Hinsicht in Ordnung bringen kann. Bevor wir diese Frage beantworten können, müssen wir allerdings zunächst verstehen, was der moralische Charakter eines Menschen ist. Besteht er eher in einem bestimmten Verhältnis zwischen unserer Vernunft und unseren Gefühlen und Neigungen? Mangelt es uns also vor allem an Einsicht oder an Wahrhaftigkeit, wenn wir Fehler machen? Diese Antwort wurde in der Philosophiegeschichte z.B. von Sokrates und Kant gegeben. Oder besteht moralischer Charakter grundsätzlich eher in einer bestimmten Gewöhnung unserer Emotionen und Neigungen? Mangelt es uns also eher an emotionaler Ausgeglichenheit oder Reife, wenn wir immer wieder in bestimmter Weise falsch handeln? So haben Aristoteles sowie die in seiner Tradition stehende Tugendethik es gesehen. Oder ist der individuelle moralische Charakter die Gesamtheit der ganz basalen und unabänderlichen Willensbestrebungen eines Menschen? Diese Auffassung hat etwa Schopenhauer vertreten – ihm zufolge können wir an unserem moralischen Charakter nichts ändern, wir können ihn aber aufgrund der Erfahrungen, die wir mit uns machen, mit der Zeit besser kennen und so einige Fehler zu vermeiden lernen. Welche Diagnose wir stellen, hat deutliche Auswirkungen auf die Maßnahmen der Erziehung und Selbst-Erziehung, die wir ergreifen. Es ist daher nicht nur lohnend, sondern von größter Bedeutung, sich darüber Gedanken zu machen, was unseren moralischen Charakter ausmacht. Im Seminar wollen wir verschiedene klassische Texte (größtenteils in Auszügen) zu dieser Fragestellung lesen und diskutieren. Die genauere Textauswahl wird zu Beginn des Semesters bekannt gegeben. Bei mehr als 30 Anmeldungen gilt: Notwendig für die Teilnahme ist die Anmeldung in LSF und die persönliche Bestätigung dieser Anmeldung in der ersten Seminarsitzung. Sollten Sie in der ersten Sitzung aus einem dringenden Grund verhindert sein, melden Sie sich bitte persönlich per Mail vor der Sitzung. Wenn mehr als 30 Personen sowohl in LSF angemeldet wie auch in der ersten Sitzung anwesend sind, entscheidet die Reihenfolge der Anmeldung in LSF (Zeitstempel). Außercurriculare Teilnahme ist nur möglich, wenn nicht alle Plätze durch curricular Teilnehmende belegt sind. Ich bitte um Ihr Verständnis. |
- Lehrende/r: Sibille Mischer