Wenige Jahrzehnte nach Dantes Gesamtschau der christlichen Jenseitswelt widmet sich Giovanni Boccaccios Decameron dem menschlichen Diesseits. Der Autor rückt in den Mittelpunkt seines Werks das zeitgenössische städtische Leben, so wie es sich durch politisch-rechtliche und religiöse Institutionen, die florierende Wirtschaft und den Handel ausprägt. Boccaccio etabliert mit seinem Decameron jene Struktur aus Rahmen und Erzählungen, die für spätere Novellensammlungen modellbildend sein wird. Die Rahmenhandlung führt den Leser zunächst in die von der Pest heimgesuchte Stadt Florenz, sodann in zwei wunderschöne, im contado gelegene Gärten und in die Valle delle donne, das Frauental. Während die Pestepidemie einen vollständigen Verlust der städtischen Ordnung zur Folge hat: „E in tanta afflizione e miseria della nostra città era la reverenda auttorità delle leggi, cosí divine come umane, quasi caduta e dissoluta tutta” (23), trägt eine Brigata aus zehn jungen Leuten innerhalb von zehn Tagen insgesamt einhundert Novellen an den genannten Landschaftsorten vor. Der strengen Ordnung des Erzählrahmens steht die bunte Vielfalt der Novellen gegenüber, die sich in den oberitalienischen Stadtstaaten, in Rom und Neapel, aber auch in Frankreich, England und im Orient, an Königshöfen, in Klöstern, auf Märkten, im Milieu von Gelehrten, Kaufleuten und Künstlern zutragen. Auf der Rahmenebene erprobt eine geschlossene Gemeinschaft eine neue gesellig-literarische Ordnung, während sie in ihren Erzählungen bestehende gesellschaftliche Ordnungsmuster vorstellt und kritisch reflektiert.

Im Seminar wollen wir uns – anhand ausgesuchter Novellen – den politischen, religiösen und rechtlichen Räumen des Decameron widmen und ihre Transformation und Reflexion in der literarischen Form der Novelle untersuchen.

 

 

Kurs im HIS-LSF

Semester: SoSe 2019