„Kinder – oder nicht?“ In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebten Frauen, Paare, Familien in Europa eine präzedenzlose Ausweitung der Optionen reproduktiven Entscheidens: Wissen über Sexualität, effektive Verhütungsmittel, legale Abtreibung, aber auch Techniken der assistierten Reproduktion wurden sukzessive zugänglich. Allerdings bestanden große Unterschiede in der Gewährung von Handlungsspielräumen, wie das Beispiel der Abtreibung verdeutlicht: Während im sozialistischen Polen Abtreibung legal war, erlaubte Spanien erst 1985 legale Abtreibung, Irland dagegen erst 2018. Dafür gab es in Polen seit den 1990er Jahren intensive Bestrebungen von Politik und Kirche, Abtreibung wieder zu verbieten. Generell zeigt sich, dass die Katholische Kirche in den drei Ländern die Entscheidungsoptionen für Frauen deutlich einhegte, allerdings mit charakteristischen Unterschieden, die es herauszuarbeiten gilt. Zugleich erlaubt der Vergleich dieser Länder die Gegenüberstellung reproduktiven Entscheidens in unterschiedlichen politischen Systemen: postkoloniale Demokratie (Irland), Diktatur und Demokratie (Spanien), Sozialismus und post-sozialistische Demokratie (Polen). Das Seminar fragt folglich nach transnationalen Verflechtungen und nationalen Spezifika in der Verhandlung von Reproduktion, in der Anwendung religiöser Dogmen, in Familien- und Bevölkerungspolitiken. So gewinnen wir Einblicke in die Zeitgeschichte der drei Länder, analysieren gesellschaftliche Konfliktlagen und den Einfluss sozialer Bewegungen und bestimmen die wesentlichen Etappen der Entwicklung von Gendernormen und Familienvorstellungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
De Zordo, Silvia, Johanna Mishtal, Lorena Anton (Hrsg.): A Fragmented Landscape. Abortion, Governance and Protest Logics in Europe, New York, Oxford 2017.
- Lehrende/r: Isabel Heinemann