Kants "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" ist zweifellos einer der wichtigsten Texte der moralphilosophischen Tradition. Darüber hinaus ist er bis heute eine Herausforderung für die systematische Moralphilosophie. Denn mit seinem berühmten kategorischen Imperativ hat Kant nicht etwa eine neue Forderung in die Welt gebracht, sondern seinem eigenen Selbstverständnis nach lediglich explizit gemacht, was den moralischen Bewertungen aller Menschen immer schon zugrunde liegt, auch wenn sie dies vielleicht nicht so klar erkennen können wie Philosophen. Kant möchte uns also gewissermaßen über unsere eigenen moralischen Begriffe und Urteile aufklären. Das Seminar geht in Anlehnung an das Verfahren des „Close reading“ (oder, auf gut Deutsch, des „genauen Lesens“) sehr textnah und kleinteilig vor. Es hat nicht das Ziel, das gesamte Werk zu besprechen. Wir werden vielmehr genau und detailliert an einzelnen Abschnitten arbeiten. Dadurch sollen die notwendigen Lese- und Analysetechniken erworben werden, die es den Studierenden im Idealfall ermöglichen, den Rest des komplizierten Textes und auch andere Texte von Kant eigenständig zu erschließen. (Dass auf diese Weise auch ganz allgemein die Fähigkeit, komplexe philosophische Texte zu erschließen, gefördert wird, liegt auf der Hand.) Ergänzend soll das Seminar eine Basis für die eigenständige philosophische Forschung legen: Wenn sich aus der gemeinsamen Arbeit am Text Fragen und Diskussionen ergeben, die über den jeweils besprochenen Textabschnitt hinausweisen (z.B. zur Begriffsgeschichte, zu anderen Texten von Kant oder zum aktuellen Stand der akademischen Diskussion), gehört es zur verpflichtenden Seminarvorbereitung, dass Teilnehmerinnen und Teilnehmer solchen Fragen in gewissem Umfang eigenständig nachgehen und die Ergebnisse im Seminar präsentieren. Aufgrund der Konzeption des Seminars ist eine Teilnahme daher nur sinnvoll, wenn die Möglichkeit besteht, regelmäßig anwesend zu sein, kurzfristig solche Aufgaben zu übernehmen und die Ergebnisse als Input zu präsentieren. Studierende, die die Möglichkeit zur regelmäßigen Anwesenheit nicht haben, werden gebeten, auf andere Seminare des Moduls auszuweichen. Vorausgesetzt werden darüber hinaus grundlegende Recherchekompetenzen (die z.B. in der Schreibwerkstatt des Philosophischen Seminars oder, für Nebenfachstudierende, in vergleichbaren Schulungen anderer Institute oder der ULB vermitteltet werden). Die Teilnahme ist daher nur sinnvoll, wenn Sie eine solche Schulung bereits absolviert haben oder zumindest parallel im Sommersemester daran teilnehmen.
- Lehrende/r: Sibille Mischer