Von der Ausstellung „Körper. Kult. Religion“
in den Münsteraner Stadtraum:
Auf den Spuren der chinesischen Gottheit Guanyin
„Wer die Welt wie seinen Körper ehrt, dem kann man die Welt anvertrauen.“ Dies ist eines der Zitate, die auf großformatigen Bannern zu lesen sind, wenn man vom Domplatz aus Richtung Aegidiimarkt läuft – vorbei am Archäologischen Museum der Universität Münster. Das Zitat stammt aus dem 13. Kapitel des Daodejing, einer Sammlung von Spruchkapiteln, die etwa im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung entstand. Sie wird dem chinesischen Philosophen Laozi zugeschrieben und gilt als Gründungschrift des Daoismus.
Religiöse Vorstellungen wie diese beeinflussen, wie wir unseren Körper wahrnehmen und mit ihm umgehen. Sie prägen auch unsere Sicht auf die Welt um uns herum. Diesem vielschichtigen Thema widmet sich die Ausstellung „Körper. Kult. Religion. Perspektiven von der Antike bis zur Gegenwart“, die aktuell im Archäologischen Museum und im Bibelmuseum der Universität gezeigt wird. Sie ist Teil des Themenjahres „Körper und Religion“ des interdisziplinären Exzellenzclusters „Religion und Politik“ und ist noch bis zum 26. Februar 2025 zu sehen. Epochen- und kulturübergreifend gehen sieben Themenbereiche etwa der Frage nach, wie sich verschiedene Religionen ihre Gottheiten in Bezug auf Körper und Geschlecht vorstellen, wie sie mit Krankheit und Tod umgehen und welche Rolle der Körper bei religiösen Ritualen spielt.
Dass die Ausstellung mit ihren fast 200 Exponaten aus diversen nationalen und internationalen Museen sowie den universitätseigenen Sammlungen sich nicht nur als „eine Illustration der Forschung, sondern Teil der Forschung“ versteht, betonte Prof. Michael Seewald, Sprecher des Clusters, bei der Eröffnung. Denn zu jedem der Ausstellungsbereiche gibt es auch eine Mitmachstation, an der die Besucher:innen mit Chips, die sie aus ihrer Eintrittskarte herauslösen können, über religiöse und gesellschaftliche Themen abstimmen können. Fragen wie „Gibt es eine göttliche Macht?“, „Ist es vorteilhaft, einem bestimmten Geschlecht anzugehören?“ oder „Gibt es eine vom Körper losgelöste Seele?“ regen dazu an, sich mit der eigenen Position auseinanderzusetzen. Aber auch über diese Stationen hinaus lädt die Ausstellung dazu ein, eigenen Assoziationen und Fragen zu folgen, Querverbindungen zwischen den Objekten und Themen herzustellen und so immer mehr von den vielfältigen Verflechtungen zwischen Körper, Raum und Zeit zu er-fassen, zu be-greifen.
Mich persönlich hat die chinesische Gottheit Guanyin schon besonders fasziniert, als ich im Juli für einen Artikel im Uni-Kunst-Kulturmagazin mit Saskia Erhardt, wissenschaftliche Mitarbeiterin für die Ausstellung, über das Konzept und die Vorbereitungen zu dieser Sonderschau gesprochen habe. Und so habe ich mich nun noch etwas intensiver auf Guanyins Spuren begeben – in der Ausstellung und darüber hinaus.
Unter dem Titel „Guanyin mit Kind“ (Abb. hier, Nr. 5)wird im Bereich „Geschlechterrollen?“ im archäologischen Museum eine chinesische Holzskulptur aus dem 19. Jahrhundert gezeigt. Während Guanyin hier eindeutig weiblich konnotiert ist, findet sie sich in der Vitrine daneben in männlicher Gestalt: als Bronzefigur unter dem Namen Avalokiteśvara (Abb. hier, Nr. 4), der im Buddhismus als der populärste Bodhisattva („nach Erleuchtung strebendes Wesen“) gilt. Ergänzt werden diese Darstellungen – Leihgaben des Übersee-Museums Bremen – um ein kleines Objekt aus der religionskundlichen Sammlung der Universität Münster: ein zeitgenössischer Anhänger aus Taiwan (Abb. hier, Nr. 6), auf dem neben Guanyin auch das Mantra zu ihrer Anrufung („Om Mani Padme Hum“) abgebildet ist. Dieses Amulett soll ihren Träger:innen Glück bringen.
Das chinesische „Guanyin“ (觀音) kann übersetzt werden mit „die Töne der Welt bzw. die Klagelaute der leidenden Wesen wahrnehmend“. Guanyin ist die chinesische Variante des männlichen Bodhisattvas (Erleuchtungswesen) Avalokiteśvara, dessen Name in Sanskrit (अवलोकितेश्वर) auch „der in Mitleid herabschauende Herr“ bedeutet. Daher werden Guanyin und Avalokiteśvara insbesondere als Bodhisattvas des universellen Mitgefühls verehrt. Häufig finden sich Darstellungen mit vielen Armen, Köpfen und Augen: Der Legende nach besitzt Avalokiteśvara bzw. Guanyin tausend Arme, tausend Augen und elf Köpfe, um das Leid der Erde sehen und überall helfen zu können. „Bodhisattvas werden als höchst moralische und gesellschaftsorientierte Wesen verehrt, da sie die Erleuchtung zwar bereits erreicht haben, jedoch ihren Eintritt ins Nirvana herauszögern, um die irdischen Seelen durch die buddhistischen Lehren aus dem Kreislauf der Wiedergeburt und somit aus ihrem Leid zu erlösen“, so die Sinologin Kirsten Tangelder im Katalog zur Ausstellung. „Zu den Fähigkeiten hoch entwickelter, übernatürlicher Bodhisattvas gehört auch, dass sie sich auf vielfältige Weise manifestieren können, einschließlich der Annahme unterschiedlicher Geschlechter,“ erklärt Religionswissenschaftler Perry Schmidt-Leukel im Katalog. „Beispielsweise wurde Avalokiteśvara als männlicher Bodhisattva in Südostasien häufig mit den Monarchen in Verbindung gesetzt, von denen sich einige als dessen Inkarnation verstanden. Gleichzeitig wurde Avalokiteśvara in China unter dem Namen Guanyin seit der Ausbreitung des Buddhismus androgyn dargestellt, wobei weibliche Merkmale oft überwogen. Seit dem 12. Jh. entstanden fast ausschließlich weibliche Darstellungen“, erläutert Tangelder. Gerade in der Volksfrömmigkeit bestand ein großes Bedürfnis nach einer weiblichen Gottheit, an die sich insbesondere Frauen mit ihren Anliegen wenden konnten. „Hier wird deutlich, dass die gleiche – eigentlich geschlechtslose – buddhistische Persönlichkeit durch eine deutliche Geschlechtszuordnung eine bestimmte Rolle übernimmt; und zwar eine, die dem Bedürfnis der Verehrenden entspricht“, so Tangelder weiter. Gleichzeitig wird Avalokiteśvara bzw. Guanyin als geschlechtslose oder androgyne Gestalt heute teilweise als Symbol einer queeren Theologie im Buddhismus diskutiert. „Die Transformation zur weiblichen Gottheit war jedoch nur im chinesischen Kulturkreis zu beobachten, obwohl Guanyin (bzw. Avalokiteśvara) auch in allen Ländern Südostasiens verehrt wurde, in denen sich der Buddhismus verbreitet hatte“, schreibt Tangelder. Dies ist wohl auch auf eine Vermischung mit der daoistischen Göttin Xīwángmǔ (西王母) zurückzuführen, die in China als „Königinmutter des Westens“ und Schöpferin des Kosmos verehrt wurde. Der Legende nach lebte sie auf dem heiligen Berg Kunlun, dem Sitz der Götter, umgeben von Pfirsichbäumen. In der chinesischen Mythologie gilt der Pfirsich als Frucht der Unsterblichkeit und taucht in den Darstellungen von Xīwángmǔ immer wieder auf. Es dürfte daher wohl kein Zufall sein, dass die Skulptur Guanyin mit einem Jungen auf ihrem Schoß zeigt, der ausgerechnet einen Pfirsich in der Hand hält.
Darstellungen von Guanyin mit Kind (songzi Guanyin 送子觀音; Kinder schenkende Guanyin) sind in China sehr verbreitet – die Liebe der Mutter zu ihrem Kind wird schon in frühen buddhistischen Texten als Urbild idealen Mitgefühls gepriesen. Gleichzeitig lassen sich in dieser Darstellungsweise unschwer christliche Bezüge zur Marienverehrung erkennen: Dies ist auf den Einfluss portugiesischer Jesuiten zurückzuführen, die im späten 16. Jahrhundert nach China kamen und Madonnenstatuen mitbrachten, die wiederum chinesischen Künstlern als Vorlage für Guanyin-Figuren dienten. Diese chinesischen Darstellungen der Guanyin mit Kind spielten wiederum zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert für japanische Christ:innen eine essenzielle Rolle: Aufgrund ihrer Verfolgung konnten sie ihren Glauben nur in versteckter Form ausüben und nutzten daher anstatt europäisch geprägter Marienfiguren insbesondere aus China importierte Porzellanfiguren von Guanyin (japanisch 観音, „Kannon“) als „Maria Kannon“ zur Madonnenverehrung. „Interessant ist hier auch, dass die Mariendarstellung auch nur auf antiken Vorbildern beruht“, erläuterte Saskia Erhardt im Vorgespräch. „Und so schließt sich der Kreis auch wieder zu anderen Kulturen und zu anderen Zeiten.“
Das lässt sich nicht nur über diese und andere Ausstellungsobjekte mit ihren vielfältigen historisch-kulturellen Verflechtungen sagen, sondern auch über den chinesischen Künstler Huang Yong Ping, dem wir es zu verdanken haben, dass Guanyin auch im Münsteraner Stadtraum ihre Spuren hinterlassen hat. Für die Skulptur Projekte 1997 schuf er auf dem Marienplatz (!) die Installation „100 Arme der Guanyin“, die später von der Stadt Münster angekauft wurde. „Er durchquerte viele Länder und Kulturen, und auch sein Werk durchquerte eine fantastische Vielzahl von Gebieten und Zeiten“, sagte Gastjuror Doryun Chong 2016 anlässlich der Verleihung des Wolfgang-Hahn-Preises an den Künstler. Der 1954 geborene und 2019 verstorbene Huang Yong Ping war einer der bedeutendsten Vertreter der chinesischen Avantgarde der 1980er Jahre und verband in seinem Werk Dada und Buddhismus. Für seine Skulptur in Münster ließ er sich nicht nur von der tausendarmigen Guanyin, sondern auch von Marcel Duchamps ikonischem „Flaschentrockner“ (1914) inspirieren. Und von der Christusfigur in der angrenzenden Ludgeri-Kirche, die bei einem Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg die Arme verloren hatte. „Ich habe keine anderen Hände als die Euren“ steht stattdessen auf dem Kreuz. Anstelle von Flaschen finden sich auf Pings „Flaschentrockner“ Arme, die verschiedene Gegenstände in den Händen halten – allerdings anders, als der Titel „100 Arme der Guanyin“ erwarten ließe, nur fünfzig: Die jeweils andere Hand soll von uns selbst kommen – Mitgefühl und Güte werden weder Jesus noch Guanyin allein überlassen.
Im Gegensatz zu Darstellungen der „tausendarmigen Guanyin“, die meist religiöse Gegenstände in ihren Händen hält, sind es hier vor allem Dinge des Alltags, die von einem westlichen Publikum verstanden werden können: ein Besen, ein Sieb, ein Nagel, eine Glocke, eine Perlenkette, eine Muschel… und sogar ein Fahrradschloss lässt sich entdecken.
Die Skulptur ist umringt von geparkten Fahrrädern und steht auf einem – zumindest auf den ersten Blick – sehr weltlich geprägten Platz. Zwischen Ludgeri- und Königsstraße gelegen, ist er geprägt von geschäftigem Treiben, von ankommenden und aufbrechenden Radfahrer:innen und Menschen mit Einkaufstaschen. Gleichzeitig ist er ein Ort, der zum Verweilen einlädt: mächtige Bäume, Bänke und viel Grün. Im Sommer stehen hier Tische und Stühle, die Leute lassen ihren Einkaufsbummel mit einer Tasse Kaffee ausklingen. Wer sich hier etwas genauer umschaut, erfährt, warum die 1899 als „Schmuckplatz“ angelegte Grünanlage Marienplatz heißt: Zwischen den Platanen ragt eine fünfzehn Meter hohe Säule aus rotem Granit empor, auf Höhe der Baumkronen ist eine Marienfigur zu erkennen. Auf dem Kopf trägt sie eine Krone, in ihrer rechten Hand ein Zepter und in ihrem linken Arm das Jesuskind. Das Monument ist eine Nachbildung der Mariensäule vor dem Münchner Rathaus, die Kurfürst Maximilian I. im Jahr 1638 aus Dank dafür errichten ließ, dass München vom damals herrschenden Dreißigjährigen Krieg verschont geblieben war.
Maria mit Kind – Statuen wie diese waren es, die die Darstellungsweisen von Guanyin mit Kind in China beeinflusst haben. Während das Kind bei der chinesischen Skulptur, die in der Ausstellung zu sehen ist, einen Pfirsich als Symbol für Unsterblichkeit in der Hand hält, ist es beim Jesuskind auf der Mariensäule ein Reichsapfel (eine Weltkugel mit aufgesetztem Kreuz), der wie Krone und Zepter für (religiöse und weltliche) Herrschaft und Macht steht. Unsterblichkeit, Herrschaft, Macht, Verehrung der Mutter mit Kind – so unterschiedlich die mit Guanyin und Maria verknüpften religiösen Vorstellungen und Praxen auch sein mögen, in beiden Fällen zeigt sich, wie die Bedürfnisse der Gläubigen und Interessen der Auftraggeber:innen von Kunstwerken religiöse Darstellungsweisen beeinflussen und verändern.
Auf die vielfältigen Verflechtungen von Maria und Guanyin scheint auch Huang Yong Ping Bezug zu nehmen. Zumindest steht seine Skulptur der Mariensäule direkt gegenüber und nimmt auch stilistisch Elemente der Säule auf: Der Flaschentrockner ähnelt in Form und Größe dem Sockel der Mariensäule. Während aber bei dieser die Säule auf dem Sockel steht, ist es bei Ping genau umgekehrt; der sockelförmige Flaschentrockner ist auf vier runden Säulen angebracht. Dieses Ähnliche im Anderen und Andere im Ähnlichen regt zu einem Perspektivwechsel an, zu genauem Hinsehen – dazu, unsere Annahmen einmal auf den Kopf zu stellen: Wie und warum sind Vorstellungen von Religion, Körper und Welt entstanden? Wie haben sich diese oft als statisch verstandenen Überzeugungen verändert und gegenseitig beeinflusst?
Die tausendarmige Guanyin ist im Verlauf der Jahrhunderte aufgrund transkultureller Austauschprozesse und sich verändernder Bedürfnisse ihrer Verehrer:innen jedenfalls als tausendgestaltige Guanyin in Erscheinung getreten – als geschlechtsloser Bodhisattva, männlicher Avalokiteśvara, androgynes Erleuchtungswesen, weibliche Gottheit mit Kind, als Madonna in Gestalt der „Maria Kannon“ oder als Symbol einer queeren Theologie im Buddhismus… und hat Eingang in die zeitgenössische Kunst gefunden. Auch Huang Yong Pings Skulptur ist ein einzigartiges transkulturelles Hybrid: Ein Mischwesen aus dadaistischem Flaschentrockner und buddhistischer Göttin, das östliche und westliche, buddhistische, christliche und säkulare Einflüsse sowie Referenzen aus Kunstgeschichte und Alltag miteinander verbindet.
Um die Gegenstände in Guanyins Armen genauer betrachten zu können, laufe ich im Kreis um die Skulptur herum und entdecke zwischen den teilweise fast banal wirkenden Alltagsobjekten auch vier chinesische Schriftzeichen, die von den Händen in die Höhe gehalten werden. Ich mache Fotos, um sie einer chinesischen Freundin zu zeigen, die mir später bei der Übersetzung hilft. 天 – Tian – Himmel, 地 – Di – Erde, 日 – Ri – Sonne, 月 – Yue – Mond: zentrale Konzepte der chinesischen Philosophie. Als ich meine Kamera herauskrame, fällt mein Blick auch auf die Herstellermarke, die ganz ähnlich klingt wie… Und tatsächlich: Kannon (観音), wie Guanyin in Japan heißt, ist Namensgeberin der von einem japanischen Buddhisten gegründeten Firma Canon. Ihr Name bedeutet auch „die Welt betrachtend“. Ich bin sehr gespannt, in welcher ihrer tausend Gestalten Guanyin mir in Zukunft noch begegnen wird!
*Dieser Text ergänzt die Ausstellungsvorbesprechung von Sophia Firgau im UniKunstKultur-Magazin Winter 2024/25, S. 35ff.