Bis unter die Haut
Tattoos gibt es seit Jahrtausenden in vielen Gegenden der Erde, ebenso viele Arten von Tätowierkunst haben sich im Lauf der Zeit entwickelt. Bereits bei dem Reiternomadenvolk der Skythen waren komplexe Darstellungen von Kriegern, Monstern und Tieren als Tattoos verbreitet, wie vom Permafrost befreite Mumien im eurasischen Steppenland zeigen.
Auch in der europäischen Antike gab es Menschen mit Tinte unter der Haut. In Rom wurden Sklaven und Verbrecher zur Kennzeichnung oder Bestrafung tätowiert. Diese grausame Praxis wurde zwei Jahrtausende später bei den Insassen von Konzentrationslagern im NS-Staat wiederholt.
Bis zum späten 19. Jahrhundert waren Tätowierungen in Europa oft verpönt, da sie mit Kriminellen, Rebellen und Seeleuten gleichgesetzt wurden. Letztere brachten Motive und Techniken aus der ganzen Welt mit. Um die Wende zum 20. Jahrhunderts ließen sich dann auch einige Mitglieder der adligen Oberschicht tätowieren. So hatte König Edward VII. von Großbritannien ein Jerusalemkreuz auf dem Arm, sein Sohn und Nachfolger George V. kehrte von einer Japanreise mit einem Drachen auf dem Arm zurück. Kaiserin Sisi von Österreich ließ sich sogar einen Anker tätowieren. Doch waren diese Adligen keine Rebellen unter ihresgleichen, denn kunsthistorisch lagen ebendiese Motive gerade im gesellschaftlichen Trend und waren daher wohl eher ein Beweis von erlesenem Geschmack.
Früher nahm man an, dass das Tätowieren aus Südwestasien stamme und sich über Ozeanien bis auf den amerikanischen Kontinent verbreitete. Inzwischen legen zahlreiche Funde weltweit nahe, dass sich diese Sitte zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Gebieten unabhängig voneinander entwickelte – zur Kennzeichnung des Standes, zu medizinischen Zwecken, zur Bestrafung. Der etymologische Ursprung des Wortes „Tattoo“ liegt jedoch in den polynesischen Sprachen. So wird das Wort „tattaw“ erstmals 1769 im Reisebericht von Joseph Banks erwähnt, der Captain Cook auf seiner Entdeckungsreise in den Südpazifik begleitet hat. Das Wort geht vermutlich zurück auf den samoanischen Begriff „Tatau“ für Hautverzierungen. Für die Traditionen der Gesellschaften dort war der Kontakt mit den Europäern oft verhängnisvoll, denn die christlichen Missionarinnen und Missionare versuchten während der Kolonialzeit auch den jahrtausende alten Brauch des Tätowierens auszurotten. Damit hatten sie Erfolg, denn erst seit einigen Jahrzehnten lassen sich wieder mehr Menschen mit dem traditionellen zinkenbewehrten Kamm und Hämmerchen auf Samoa tätowieren.
In unserer heutigen westlichen Gesellschaft haben Tattoos größtenteils Schmuckcharakter. Ein Klassiker ist es, sich Tattoos als Souvenirs im Urlaub stechen zu lassen. Sie stellen eine Mischform von Schmuck, Bedeutung und Erinnerung dar. Üblich ist dabei die Übernahme von landestypischer Symbolik, Mystik oder Kulturelementen der Urlaubsländer. Die Tinte solcher Tattoos geht zwar unter die Haut, die Bilder aber bleiben oberflächlich, denn die kulturellen Wurzeln von Worten und Symbolen lassen sich nicht mitstechen. So wird der Wunsch nach Authentizität zur romantischen Projektion.
Einer Studie der Ruhr-Universität Bochum aus dem Jahr 2014 zufolge, besitzen bereits knapp zehn Prozent der Frauen und acht Prozent der Männer Deutschlands eine Tätowierung. Noch immer müssen tätowierte Menschen mit Vorurteilen leben, obwohl sich laut den Ergebnissen der Studie kein Zusammenhang zwischen Schulbildung oder sozialer Klasse und Tattoos nachweisen lässt.
Einem Tattoo in Textform sind im Vergleich zu anderen Visualisierungen allerdings engere Grenzen gesetzt. Auch Schrift kann als Ornamentik gelten und ästhetische Aspekte haben, doch wird sie immer von ihrer semantischen Aussage begleitet. Es gibt nicht nur den Betrachter und den Künstler, sondern es stellt sich die Frage nach Autorenschaft und Leserschaft. Mit der Frage, weshalb Menschen ihre Haut zu einem Schriftstück werden lassen, haben wir uns nach Menschen umgesehen und uns ihre Kunstwerke zeigen lassen. Wir danken ihnen herzlich für ihre Teilnahme.
| Dominic Eickhoff