Freier Körper, freier Geist

Eins vorweg: Es geht in diesem Text um Zufall und Intuition, ums Finden, ohne zu suchen. Und doch — und das ist das Faszinierende daran — steckt dahinter eine klar durchdachte, wissenschaftlich geschulte Analyse von Texten und Körpern. Vorhang auf für das ... Physical Theatre!
Vorspiel
Tanz und Gesang, aus zufälligen Bewegungen und Lauten entstanden, gehören zu den ersten Äußerungen des Menschen, die keinen erkennbaren Zweck hatten. Aus dem spontanen Ausdruck von Freude und Trauer entwickelten sich standardisierte Abläufe, die die Menschen in Darsteller und Zuschauer trennten. Je komplexer Leben und Denken wurden, umso rationaler wurden die Darstellungen, um die Welten von Göttern und Menschen zu erklären. Die ältesten überlieferten europäischen Theaterstücke, die der antiken griechischen Dichter, waren so erfolgreich, dass sie noch heute gespielt werden.
1. Akt
Shakespeare, Goethe, Brecht – die Texter zähmten die Emotionen durch Moral, der Körper trat hinter den Geist zurück. Spätestens ab den 1970er Jahren wollten ihm die jungen, wilden Regisseure wieder zu seinem Recht verhelfen. Nackt, blutend, deformiert schockten die Schauspieler das Publikum, das nicht mehr verstand, was sich vor seinen Augen auf der Bühne abspielte.
Eine Versöhnung zwischen Text und Körper versprechen Methoden des Physical Theatre, die Sarah Giese für die sprecherische und schauspielerische Arbeit am Text weiter entwickelt hat. „Ich habe mich gefragt, wie man den Text über den Körper erfahrbarer machen kann“, erzählt Giese. „In London habe ich bei einer Aufführung des ,Otello‘ von Frantic Assembly entdeckt, dass neben dem Tanz eine zweite, alternative Körperästhetik existiert.“ Das Physical Theatre beginnt nicht mit der Analyse und Interpretation des Textes, um in einem zweiten Schritt zu überlegen, wie die Inhalte mit Mimik, Gestik und Bewegung verdeutlicht werden können. Stattdessen schreibt das Physical Theatre dem Körper eine eigene Logik zu.
„Wir wollen wegkommen von bestimmten Bedeutungsmustern“, sagt Giese. Die Zeile „Ich bin traurig“ mit herunter gezogenen Mundwinkeln zu sprechen, sei nur eine Verdoppelung der Aussage. Dabei wird der Text nicht unwichtig, er ist ja die Grundlage der Inszenierung. „Aber wenn ich mir den Text angesehen habe, stelle ich ihn erstmal wieder weg und überlasse meinem Körper, die passenden Bewegungen zu suchen. Ich nenne diese Methode gerne: ,von hinten durch die Brust ins Auge‘.“
2. Akt
Die Übungen, die Giese aus dem angelsächsischen Physical Theatre in ihrer Abschluss- und Praxisarbeit weiter entwickelt hat, setzen auf Kommunikation durch Bewegung und Kontakt. Das ist für die meisten ungewohnt, schließlich ist Sprache nicht nur ein Medium der Informationsübermittlung, sondern Grundlage unseres Denkens.
Damit sich die Teilnehmer ihrer Körper bewusst zu werden und die Zensur durchs Hirn abzustellen, lässt Giese die Teilnehmer ihrer Workshops beispielsweise durch den Raum wandern, Richtungswechsel oder Scheinzusammenstöße sorgen für absichtliche Irritationen. Auf Befehl nehmen die Spieler in schneller Folge ungewohnte Positionen ein, an die Wand gepresst, zusammengekauert, den Nachbarn umschlingend. Danach stehen Paarübungen an, bei denen einer die zufälligen Bewegungen des anderen ohne direkten Blickkontakt intuitiv aufnimmt. „Betrachtet man diese Übung von außen, beginnt man automatisch, den einzelnen Paarungen Geschichten zuzuordnen oder vielmehr anzudichten, die eigentlich überhaupt nicht angelegt sind“, erklärt Giese. „Diese Übung verdeutlicht noch einmal, wie entscheidend die Lesart des Zuschauers für die Bedeutungskonstitution ist.“
In Zweiergruppen werden acht bis zwölf Bewegungen entwickelt, die keinerlei Bedeutung und Subtext in sich tragen, sondern rein choreografisch angelegt sind und mal langsamer, mal schneller mit unterschiedlichen Gesten wiederholt werden. Dann werden die Paarungen aufgelöst und ein Text über die Bewegungen gelegt, wobei die Stimme dem Körper und nicht einer gerichteten Interpretation folgt. Aus der Kombination von Text und einer vermeintlich zum Inhalt des Textes nicht zugehörigen Bewegung entstehen oft komplexe Geschichten, die der Zuschauer im Zusammenspiel zu entdecken meint. Diese einzelnen Elemente, rein intuitiv entstanden, können dann gezielt in der Inszenierung genutzt werden.
„Mir kommt es nicht darauf an, bestimmte Inhalte im Theater zu vermitteln, ich finde den didaktischen Zeigefinger eher schwierig. Ich will Emotionen im Zuschauer hervorrufen und das funktioniert, wenn der Akteur weiß, was er tut“, beschreibt Giese ihren Ansatz.
Zwischenspiel
Die 36-Jährige wollte schon als Kind Theater spielen, bereits im Alter von acht Jahren stand sie auf der Bühne. Später entschied sie sich, unter anderem Anglistik an der Uni Münster zu studieren und entdeckte die English Drama Group und das Theater en face für sich. Sie ging nach England ans Theater und ließ sich nach dem Abschluss noch zur Sprecherzieherin mit Schwerpunkt Sprechkunst ausbilden. Heute verdient sie ihren Lebensunterhalt als Schauspielerin, Dramaturgin und Sprecherin für Funk und Fernsehen bei Hörspielen und Dokumentationen. Außerdem arbeitet sie an der Kölner Hochschule für Musik und Tanz als Dozentin für Bühnendialog mit jungen Opernsängern und gibt Seminare am Centrum für Rhetorik der WWU. „Beim Rezitieren hat der Körper scheinbar nichts zu tun. Aber wenn ich durch die Körperarbeit einmal die eingefahrenen Rhythmusstrukturen verlassen habe und am Ende den Text pur spreche, fließen die Erfahrungen, die ich bei den Übungen machte, ins Sprechen ein.”
Gerade Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die mit klassischer Dichtung eher fremdeln, hilft das Physical Theatre. Regelmäßig arbeitet Giese für das “Cactus Junges Theater”. Die Collage “Meat the girl(s)”, von Judith Suermann und ihr inszeniert, wurde vor drei Jahren zum mit Recht umjubelten Erfolg auf der Bühne des Pumpenhaus. Die acht Darstellerinnen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren gaben in drastischer Offenheit Einblicke in ihre Mädchenseelen.
3. Akt
Sie haben im wahrsten Sinne des Wortes ihr Innerstes nach außen gekehrt, sie tragen ihr rohes Fleisch auf den Jahrmarkt der Eitelkeiten. Die erste Menstruation, die Balzrituale gerade erst erwachender Männlein und Weiblein, die unbekannten Bedrohungen werden in einen assoziativen Reigen eingewoben. Hier wird klar, was Giese meint, wenn sie sagt, dass das Physical Theatre dem Text eine neue Qualität hinzufügt. Denn durch die oft kontrastierenden Bewegungen und Tänze erhalten die harmlos scheinenden Erzählungen eine oft düstere, manchmal auch komische Dimension, die in ihrer Kompromisslosigkeit dem Zuschauer ans Herz greift.
Mit der „Weichheit der Papageienbrust und der Härte des Diamanten“, wie sie im Prolog des Stückes beschworen wird, zelebrieren die Mädchen ihre Weiblichkeit. Bemerkenswert sind dabei vor allem drei Elemente der Darstellung, wie man sie so jungen Darstellerinnen kaum zutrauen mag: Mit außerordentlich reiner Intonation meistern sie selbst die schwierigen Sprechchöre. Und das, während sie selbst ständig in Bewegung sind, wirbeln, bauchtanzen, ihren „Speck schütteln“. Dabei ist die Inszenierung nicht einfach nur Tanztheater, selten hat man Pubertierende so reflektiert und reif nachdenken sehen.
Epilog
Die reine Lehre des Physical Theatres ist vor allem in England und den Beneluxländern zu sehen, in Deutschland dagegen hat man eher selten und wenn, dann meist auf Off-Bühnen wie dem Theater im Pumpenhaus die Gelegenheit. Die Essener Folkwang-Schule bietet inzwischen einen kleinen, exklusiven Studiengang „Physical Theatre“ für fünf bis sechs Studierende pro Jahr an. Zwei ihrer Absolventen, Sabeth Dannenberg und Jasper Schmitz, werden im Oktober ihr Können als Regisseure im Pumpenhaus mit dem Stück „33“ zeigen – mit Sarah Giese in der Rolle der „K“.
| Brigitte Nussbaum