“In der Akrobatik sind wir verloren – wir erkennen nicht länger oben und unten. Wir wissen nicht, ob wir steigen oder fallen.“ Mit diesen Worten beginnt das Zirkusstück Acrobates – une histoire d’art et d’amitié (Frankreich) und lenkt damit die Aufmerksamkeit auf ein zentrales Merkmale von Zirkus: seine spezielle Beziehung zum Raum. Die Gruppe Gravity & Other myth (Australien) visualisiert die Räumlichkeit von Zirkus in ihrem Namen, die Companie Gandini juggling (England) betitelt ihre aktuelle Show 4x4 Ephemeral Architectures, die Performance Hans was Heiri der Companie Zimmermann & De Perrot (Schweiz) fokussiert das Experimentieren mit räumlichen Anordnungen, in der preisgekrönten Cyr-Wheel-Nummer, aufgeführt von Aimé Morales (Venezuela), fungiert das Rad innerhalb der Diegese als Grenze zu einer mythischen Welt. Nicht nur durch eine explizierte Thematisierung, sondern auch im Allgemeinen ist es dem Zirkuswissenschaftler Bouissac zufolge möglich, Zirkus eine “sui generis spatial semiotics” zuzuschreiben. In den letzten Jahrhunderten wurde die Zirkuskunst an verschiedenen Aufführungsorten, die die Rezeption seitens der Zuschauer stark
beeinflussen, präsentiert. Zirkusartisten bereisen mit ihren Nummern die gesamte Welt und müssen sich dabei an die jeweiligen kulturell etablierten Paradigmen anpassen. Zirkusdisziplinen nutzen die Länge, Tiefe und Höhe des dreidimensionalen Raumes. Die Körper der Artisten bezwingen die Schwerkraft und stellen sich selbst auf den Kopf. Das Seminar behandelt die Frage nach dem Raum im Kontext des traditionellen, neuen und zeitgenössischem Zirkus aus dem Blickwinkel der Semiotik. Angestrebt wird das kulturpoetische Anliegen, mithilfe einer reflektierten Ausweitung und Transgression des literaturwissenschaftlichen Gegenstandes – in diesem Fall die Ausweitung auf das Genre ‚Zirkus’ – die Fähigkeit zur Analyse kultureller Repräsentationen zu entwickeln.
Folgende Themen stehen dabei im Fokus:
• Manege, Bühne, Straße – Circus und Aufführungsort
• Grenzen, Barrieren, Horizonte – Zirkus und Mobilität
• Horizontale, Vertikale, Schwerkraft – Körper und Raum
• Grenzen, Ordnungen– Zirkus und semiotischer Raum
• Konfiguration, Praxis – Zirkus und kultureller Raum
Das Seminar fand in Kooperation mit dem zeitgenössischen Zirkus ‚Cirque Bouffon’ statt, der im Juni 2017 in Münster vor dem Schloss gastierte. Die internationale Tagung UpSideDown – Circus and Space, die vom 28.-30. Juni in Münster stattfand, war zentraler Bestandteil des Seminars. Neben der einmaligen Chance, mit international renommierten Zirkuswissenschaftlern in Austausch zu treten, gab es die Möglichkeit einer aktiven Beteiligung an der Tagungsorganisation und –durchführung.
Bouissac, Paul: Circus and Culture. De Gruyter: Berlin/New York 2010. S. 11.