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POEPHYSICS

POEflyPHYSICS

Poetry, Prose and Art Journal
Multilingual, Multicultural, Interdisciplinary Web Edition


Volker Knecht
Kaiserslautern, Germany


So nebenbei

Da wir nun grad beisammen sind,
sag, wie geht es deinem Kind?
Wie Hohn und Spott mir diese Frage klingt,
die, oft gestellt, doch wenig bedacht,
weil abgestumpft vom häufigen Gebrauch,
geschliffen nun vom Wetzstein des Geschicks,
mir wie ein Messer in die Seele dringt,
schau ich der Antwort Angesicht:
Mein Kind ist tot, Freund, wußtest du das nicht?

Ghetto der Greise

Graue Mütter, die vergessen,
kahle Väter, die vebraucht,
sitzen, Wachsfiguren gleich,
stumm und starr und totenbleich,
wie Burgruinen, leere Hallen,
in denen Geisterstimmen schallen -
Stimmen, die schon längst verklungen,
unklare Erinnerungen -,
ihre Leben fransen aus,
bis sie zerlumpt vom Leibe fallen.
Graue Mütter, die vergessen,
kahle Väter, die verbraucht,
die von der Außenwelt gemieden,
wie Exkremente ausgeschied en,
harren ihrem nahen Ende.

Nacht in Montmartre

Im Scheine von Laternen
spaziere ich die Straße entlang
und blicke über ein Geländer
hinunter in ein Schattenreich:
Hinter eingefaßten Blumenbeeten
in denen Unkraut wuchert
stehen wuchtige Marmorblöcke
halb in den Boden eingesunken
und marmorne Torsen
das bleiche Gebein einer verlorenen Zeit.
Im Museum sah ich Sarkophage
neben Götterstatuetten
mit erigiertem Phallus.
So ist es auch hier:
Auf der anderen Straßenseite
der düsteren Grube gegenüber
öffnet sich das Rotlichtviertel
wo bunte Neonröhren prangen.
Rotbemalte Huren
preisen ihren Körper an;
belegt und rauh sind ihre Stimmen
die Zeichen tragen
von so mancher rauher Nacht.
Verstohlen nähern sich die Freier
bieten hundertachtzig Francs
für eine Stunde Fleischeslust.
Im Reich der Stille unten
sind Lettern in Granit gemeißelt
jene tröstliche Metapher
RUH´ IN FRIEDEN, RUHE SANFT
darüber eingeprägt die Namen
altehrwürdiger Bürger
deren Fleisch nun längst vermodert
nachdem es doch einst ebenso
in Leidenschaft und Wollust bebte.

Freunde

sie fanden ihn
auf seinem Bett liegend
auf dem Nachttisch stand eine leere Tablettendose
jemand legte den Finger auf seine Halsschlagader
er lebte noch
atmete kaum
die Fenster waren gekippt
unten rauschte der Verkehr
er hat es so gewollt sagte jemand
und steckte sich eine Zigarette an
sie warteten
unten rauschte der Verkehr

Stacheln


Beschimpfungen
Beleidigungen
stürzen auf mich ein
ich stell mir vor ich sei ein Igel
und rollte mich ein
geschützt vor jedem Feind
durch mein Stachelkeid
ein Igel bin ich wirklich
doch meine Stacheln
sch&uum l;tzen mich vor keinem Feind
denn sie sind
nach innen
gewachsen
in mein eigenes Fleisch
bohrende Fragen
Selbstanklagen
der Teufel Zweifel
ragende Stacheln
nach innen
gewachsen
in mein eigenes Fleisch

Die Vision

Auf dem Tisch, neben dem Carlos Platz genommen hatte, waren alte Zeitungen ausgelegt, auf denen verschiedene Malutensilien ausgebreitet lagen: Pastell- und Kohlestifte, eine Malspachtel, ein Palettenmesser, sowie diverse Sorten Pinsel - Flach- und Rundpinsel, feine Haar- und breite Grundierpinsel. An einer Seite des Tisches lehnten Holzplatten und einige Rahmen mit eingespanntem Malleinen. An den Wänden des Raumes, der durch ein großes Schrägfenster erhellt wurde, hing eine Vielzahl von Gemälden in surrealistischem Stil. Gemma, Carlos' Frau, stand in der Mitte des Raumes vor einem Bild auf einer Staffelei. "Schau dir das an!" sagte sie.

Zögernd stand Carlos auf und ging zu ihr hin; er hinkte ein wenig. Stirnrunzelnd betrachtete er sich das Bild. Es zeigte eine hohe, dunkle Mauer im lichten Nebel einer herbstlichen Landschaft. Vor der Mauer schwebte eine geländerlose Treppe im leeren Raum.

"Was konnte das bedeuten?" fragte Carlos.

"Ich weiß es nicht" sagte seine Frau, "aber sieh dort!" Sie zeigte auf ein Bild an der Wand, das dem auf der Staffelei sehr ähnlich war. "Auf den ersten Blick sieht es so aus, als habe der Maler jenes Bild dort kopieren wollen", sagte Gemma, " abgesehen davon, daß dieses Bild hier nicht ganz vollendet ist, scheinen sie nämlich völlig identisch zu sein. Bei genauerem Hinsehen bemerkt man jedoch, daß sie sich durchaus voneinander unterscheiden, und dies hat sicherlich auch in der Absicht des Künstlers gelegen. Das zweite Bild hier ist in gewisser Weise eine Steigerung des ersten, es ist dichter und intensiver, findest du nicht auch?"

"Ich weiß nicht" ;, murmelte Carlos. Unvermittelt kniff er die Augen zu und griff sich an die Schläfe.

"Hast du wieder Kopfschmerzen?", fragte Gemma.

"Es geht schon", sagte Carlos, während er die Hand wieder nach unten nahm.

Von der Decke war ein Geräusch zu hören, das an das Rieseln von grobem Sand erinnerte. Carlos blickte verwundert nach oben. "Mäuse", erklärte seine Frau.

Nie hatte der Maler de Vega ein Bild so plastisch vor sich gesehen, es war wie eine Vision, er benötigte kein Modell und keine Skizzen. Das zweite Bild stand kurz vor der Vollendung. Heute morgen hatte er damit begonnen und seitdem ununterbrochen gearbeitet. Draußen war es längst dunkel. De Vega war verstimmt: Er haßte es, bei elektrischem Licht zu malen - was ihn allerdings nicht davon abhielt, ständig bis spät in die Nacht zu arbeiten; in der letzten Zeit hatte er nämlich ohnehin einen schlechten Schlaf. Immer wieder wurde er von dem gleichen Alptraum heimgesucht: Er träumte, er schaue in einen Spiegel und das Gesicht, das ihm entgegenblicke, sei ihm völlig fremd. Das riß ihn jedesmal aus dem Schlaf und ließ ihn bis zum Morgen wachliegen.

Die dunkle Mauer und die schwebende Treppe waren mehr als ein Gespinst seiner Phantasie, sie waren Realität. Er hatte das Gefühl, ihre Gegenwart lange gespürt zu haben, bevor er sich dessen bewußt geworden war. An diesem Morgen hatte er mit dem Bild begonnen. Veranlaßt dazu hatte ihn das vage Gefühl, daß mit der Mauer und der Treppe eine Veränderung vor sich gegangen war. Während er sein Sujet mit Kreide skizzierte, mußte er sich immer wieder korrigieren. Er versuchte sich besser zu konzentrieren, doch so sehr er sich auch zusammennahm, wollte es ihm nicht gelingen, seine Vision auf die Leinwand zu bannen. Erst nach einer Weile begriff er, was hier geschah: Langsam, kaum wahrnehmbar, doch kontinuierlich, bewegten sich Ma uer und Treppe: Sie kamen allmählig auf ihn zu!

Fieberhaft arbeitete er weiter; nicht die Vision selbst, sondern gerade die Furcht, die sie ihm einflößte, war es, was ihn faszinierte und was er festzuhalten versuchte. An Flucht dachte er keinen Augenblick. Wohin hätte er sich auch wenden sollen? Nach hause? Dort wäre er der Mauer sicherlich ebenso ausgeliefert gewesen wie hier in seinem Atelier.

Um sein zweites Bild fertigstellen zu können, benutzte er teilweise sein erstes Bild als Vorlage. Mittlerweile war ihm diese Mauer so nahe gerückt, daß sie sein ganzes Blickfeld einnahm: Nun sah er auch, daß sowohl die Mauer als auch die Treppe von einer Art grauem Samt überzogen waren.

Plötzlich ging das Licht aus. Dunkelheit füllte substanzhaft den Raum.

Draußen war kein Gewitter: Warum war der Strom ausgefallen? Der Sicherungskasten war ein Stockwerk tiefer; dort war auch eine Taschenlampe. De Vega tastete sich vorsichtig zur Tür. Von der Decke war das Trippeln unsichtbarer Mäuse zu hören.

De Vega öffnete die Tür und trat in den Flur. Langsam stieg er die Treppenstufen hinunter. Vor seiner Hand, die das Geländer hinabglitt, spürte er plötzlich etwas Kleines, Weiches, das sich anfühlte wie Samt. Es bewegte sich und sprang ihm gegen die Rippen; er schreckte zurück, setzte den Fuß zur Seite und trat ins Leere ...

"Moment mal", sagte Carlos, wobei er auf ein Bild an der Wand starrte, das er bisher nicht weiter beachtet hatte, "bist das nicht du, Gemma?"

Sie nickte.

"Hast du ihm etwa Modell gestanden?", fragte Carlos, "nackt?"

Sie nickte nochmals.

Er zuckte mit den Mundwinkeln. "Wußte ich davon?" fragte er.

"Ja, du wußtest es", sagte Gemma.

Einen Moment herrschte Schweigen.

"Was passierte eigentlich mit dem Maler?", fragte Carlos.

Z&oum l;gernd gab Gemma Antwort. "Man fand ihn eines Morgens am Fuße der Flurtreppe."

"War er tot?"

"Nein, dem Himmel sei Dank, er lebte; erwar nur ohne Besinnung. Man brachte ihn ins Hospital." Sie hielt inne.

"Fünf Tage lag er im Koma" fuhr sie fort, "als er erwachte, erkannte er weder seine Freunde und Angehörigen, noch wußte er, wer er war. Er hatte sein Gedächtnis verloren."

Carlos starrte sie entgeistert an. "Willst du etwa behaupten, daß ich ... ?"

Sie nickte unmerklich. "Verzeih, daß ich es dir nicht schon früher sagte, aber ich war bislang der Meinung, daß der richtige Zeitpunkt dafür noch nicht gekommen sei."

Carlos lachte kurz auf.

Nacheinander betrachtete er sich die verschiedenen Bilder an den Wänden; das Bild auf der Staffelei hielt ihn lange in seinem Bann. Schließlich setzte er sich auf eine umherstehende Holzkiste und begrub sein Gesicht in den Händen.

Behutsam nahm Gemma das Bild von der Staffelei und ersetzte es durch eine leere Leinwand. Auf dem kleinen Maltisch daneben legte sie Palette, Farbtuben, Pinsel und Malkreide zurecht. Anschließend begann sie sich auszukleiden. Als sie fertig war stellte sie sich auf ein Podest. "Versuch es", sagte sie angesichts des fragenden Blicks ihres Mannes. Still musterte Carlos die schwarzen Locken, die angenehmen Gesichtszüge und den nicht mehr völlig schlanken Körper seiner Frau. Er ging zur Staffelei und nahm sich ein Stück brauner Kreide. Unter seiner Hand entstanden auf der Leinwand allmählig Umrisse und Formen.

Nach einer Weile trat er ein paar Schritte zurück, um sein Werk zu begutachten. Er seufzte und schüttelte den Kopf. Gemma warf sich ihren Mantel über und kam herbei. Die Linien auf der Leinwand waren zu zaghaft und unentschlossen, die Proportionen stimmten nicht; der Zeichnung fehlte der innere Halt, der abgebildet e Körper schien zu zerfließen.

"So schlecht ist es doch für den Anfang nicht", sagte Gemma," schließlich ist es dein erster Versuch nach deinem Unfall. Vielleicht solltest du mit etwas Einfacherem beginnen."

Aus einem Apfel, einer Vase, einem Bündel Getreidehalme und einer Zeitung stellte sie auf einer Holzkiste eifrig ein Stilleben zusammen.

"Nein, laß nur", sagte Carlos, "jetzt nicht, vielleicht ein andermal. - Womöglich werde ich nie wieder solche Bilder malen können", sagte er und warf noch einen Blick auf sein letztes Gemälde.

"Ich bin müde", fuhr er fort, "komm, zieh dich an und laß uns nach hause gehen."

Metamorphosen des Bösen

Es war die lähmende Schwüle, die an diesem Tage schwer über dem Lande lastete, was Isenbrand von dem bis dahin beschrittenen Weg abweichen und den Wald dem freien Feld vorziehen ließ. Isenbrand, Isegrims Sohn, war auf dem Weg nach hause zu seines Vaters Burg. Jahre war er fortgewesen; er hatte den schlimmsten Gefahren getrotzt, in unzähligen Schlachten gefochten und sich großen Ruhm erworben.

Tiefer und tiefer zog es den Wanderer in den Wald hinein, wo ihn grünes Blattwerk immer dichter umwob. Über die eigentümliche Stille, die in diesem Walde herrschte, erhob sich allmählig der klare, prickelnde Laut von plätscherndem Wasser. Isenbrand hatte schon einen vollen Tag nichts mehr getrunken, und die Hitze hatte ohnehin seine Kehle ausgetrocknet. Er brauchte nicht lange zu suchen, bis er im Zwielicht einen sprudelnden Quell gewahrte. Gierig wollte er zum Wasser stürzen, um sich zu laben, als er innehielt und wie gebannt stehenblieb; in dem großen Becken vor dem Ausfluß trieben Tierkadaver - erst jetzt kam ihm auch der ungeheure Gestank zu Bewußtsein, der dumpf und schwer über diesem Orte hing - : Die Quelle war vergiftet. Müde schleppte Isenbrand sich weiter.

Als er seinem unbändigen Durst mit Laubblättern beizukommen versuchte, zerfielen diese zu Staub, sobald er sie berührte. So kam er auf den Gedanken, sich mit seinem Bogen vielleicht ein Reh oder ein Wildschwein zu schießen, um seinen Durst mit Blut zu stillen. Doch der Wald war tot, kein Wild weit und breit. Stattdessen verschlug es ihn in ein immer dichterwerdendes Gehege von Hecken und Dornengestrüpp, das bald Mannshöhe erreichte. Mit seinem mächtigen Schwert bahnte er sich einen Weg hindurch, obgleich der Mangel ihn sehr geschwächt hatte; der Trotz des knorrigen Holzes stachelte Isenbrand an und ließ ihn umso wilder dreinschlagen.

Schließlich stieß er auf einen schmalen Pfad. Hätte ihn nicht die bereits eintretende Dämmerung, die in diesem Forst bald zu undurchdringlicher Dunkelheit anwuchs, gezwungen, seine Wanderung zu unterbrechen, wäre Isenbrand ungeachtet seiner übergroßen Erschöpfung weitergegangen; sein Durst gönnte ihm keine Rast. Sich in die Umstände fügend bereitete er sich ein Nachtlager; allein zum Schlafen sollte er nicht kommen: Fortwährend hörte er das Rascheln von Laub und Knacken von Ästen in seiner Nähe, und er fand keine Ruhe, denn ihm schien es, als umschleiche ihn zögernd ein wildes Tier oder ein Räuber, um ihn jeden Augenblick zu überfallen.

Nichtsdestotrotz brach der Tag an, dem sich der Wald nur langsam aus seinen morgentlichen Nebelschleiern enthüllte, ohne daß sich Isenbrand gegen irgendeinen Feind hätte zur Wehr setzen müssen. Der Recke machte sich auf und folgte dem Pfad in eine Richtung.

Den ganzen Tag war Isenbrand gewandert - der Pfad blieb beidseitig von Dornendickicht flankiert - als ihn eine Ahnung befiel, die letztlich Gewißheit wurde: Der Pfad führte im Kreis.

Zornig schrie da Isenbrand: "Wo steckst du, elender Wicht, der du mich zu vernichten trac htest, dich aber feige in ein Loch verkrochen hast, um dich üblem Zauber zu bedienen? Komm heraus und zeig dich, Beelzebub!"

Daraufhin schrumpfte mit einemmal das Dornendickicht ganz in sich zusammen, und die Wasser des Waldes wurden wieder rein; gleichzeitig aber wuchs vor ihm eine Gestalt aus dem Boden: Hager, in Lumpen gehüllt, mit dem Kopf eines Ziegenbocks und dürren krummen Beinen, die in Pferdefüßen endeten, grinste sie ihn hämisch an.

Verdutzt blieb Isenbrand zunächst regungslos stehen. Allerdings faßte er sich gleich wieder und stürzte sich auf den Spötter, um ihn zu würgen. Der hingegen tat flugs einen Schritt zur Seite, sodaß Isenbrand ins Leere fiel. Etwas benommen rappelte sich der Recke wieder auf und unternahm einen zweiten Versuch, bei dem er den Gehörnten erwischte. Ein erbitterter Ringkampf entspann sich. Etliche Male glaubte Isenbrand seinen Gegner in sicherem Griff zu haben, als sich ihm dieser wieder aalglatt entwandt.

Dies währte, bis Isenbrand, zu Boden geworfen, zufällig neben seinem Schwert zu liegen kam, das er im Kampf verloren hatte. Er packte es, schwang sich auf und stieß dem Dämon den Stahl in den Leib. Gänzlich durchbohrt, besah sich dieser seine Wunde, die noch das tödliche Schmiedewerk umschloß, und - lachte, lachte Isenbrand einfach aus. In unermeßlicher Wut riß der Recke das Schwert wieder heraus, holte aus und spaltete den Gehörnten in einem wuchtigen Hieb in zwei Teile. - Schweiß rann ihm das Gesicht und den ganzen Körper herunter, und er kam nur langsam wieder zu Atem.

Hatte er indessen geglaubt, er habe den Kampf gewonnen, so ward er jäh enttäuscht; die getrennten Körperhäften wurden nämlich wieder lebendig: Aus der Blutlache erhoben sich zwei kleinere Teufel - Isenbrand kaum bis an die Brust reichend -, die direkt zum Angriff ansetzten. Vor Schreck wie gelähmt ließ er sich von ihnen überwinden und sein Schwert entreißen: Sein Herz hatte allerdings nicht dreimal geschlagen, als er sie schon wieder von sich stieß; blitzschnell hatte er seine Waffe gegrifffen und mit ihnen wie mit ihrem Vorgänger verfahren.

Lag hinwiederum eben noch nichts als Aas um ihn herum, sah er sich im nächsten Moment von vier höchst lebendigen Zwergteufeln umringt - nicht halb so groß wie er selbst. Erneut attackiert, reagierte er diesmal schneller, konnte aber nur drei erwischen - der Vierte zwickte ihn übermütig ins Hinterteil. Ärgerlich fuhr der Geneckte herum, der Schelm freilich war längst woanders. Dafür sprang einer der entstandenen, noch kleineren Teufelchen Isenbrand von hinten an den Hals, ein anderer biß ihm in den Arm und ein dritter hängte sich ihm ans Bein. Isenbrand konnte sich gar nicht um sie kümmern, denn er hatte genug mit den Übrigen zu tun. Wild drosch er auf sie ein, doch jeder Treffer klonte zwei weitere kleinere Kobolde, die ihn munter weiterpiesackten. Bald war er von einer ganzen Schar derselben umgeben, von denen einige einen Kreis um ihn bildeten und unter schallendem Hohngelächter einen Reigen tanzten. Verzweifelt trat Isenbrand nach ihm nunmehr nur noch bis an die Knöchel reichenden Gnomen. Wie ein Irrsinniger wirbelte er umher, immer schneller und schneller, bis ihn schwindelte, er zu Boden fiel und ihn die Horde der Kobolde wie eine Flut überkam. Er wälzte sich umher, um das Ungezeifer zu zermalmen; nach wie vor konnte er sie aber nicht töten, sondern bewirkte nur, daß sie immer kleiner und zahlreicher wurden. Ein Gewimmel wie von Maden bedeckte seinen Körper: Schon waren sie so winzig, daß sie ihm durch den Mund und die Nasenlöcher ins Innere krabbelten; Isenbrand zerkaute sie, er hustete und nieste sie heraus - es war freilich alles zwecklos. Letztlich gelangten sie sogar durch die Poren der Haut in seinen Körper, wo sie sich festsetzten und von ihm zehrten: Höllenfeuer flammten auf in Isenbrand: Ein Malstrom unendlichen Schmerzes erfaßte die Welt um ihn, alles verschlingend, zuletzt sein ganzes Ich.

Die Schmerzen, die Isenbrand spürte, als er erwachte, rührten von den Dornen her, in die er irgendwie geraten war. Nachdem er sich aus dem stachligen Holz befreit und sein Schwert eingesteckt hatte, brach er auf, um so schnell wie möglich aus diesem unheimlichen Wald herauszukommen.

Isenbrands Erinnerung war gänzlich verwaschen; vergeblich mühte er sich zu trennen, was nun Traum und was Wirklichkeit gewesen war. Während er so vor sich hin sinnierte, kam er an einen Bach, der ihm allerdings nicht zur Erquickung gereichen sollte: Denn als er sich niederbückt, um von dem begehrten Naß zu kosten, sieht er im Wasser das Bild einer abscheulichen Teufelsfratze - eben jener, von der er in seinem vermeintlichen Traum so verhöhnt worden ist. Hastig betastet er seinen Kopf und findet die grausige Vision bestätigt. Er springt auf und taumelt ziellos von dannen, völlig vergessend, daß er doch hat trinken wollen.

Wenig später sah Isenbrand wundersam den Rand des Waldes erreicht. Wehmütig ließ er den Blick über die Wiesengründe und Weizenfelder schweifen, um dann zur Sonne aufzuschauen, die durch einen Vorhang aus Wolkenschleiern die Landschaft mit mildem Licht übergoß. Ein erfrischender Wind überstrich die weite Flur, und es schien, als habe ihn jene Burg dort in der Ferne entsandt, in der Isenbrand die Burg seines Vaters zu erkennen glaubte. Abschied seufzend trat er zurück in die Dunkelheit des Forsts: Der klägliche Rest Stolz, der ihm noch geblieben war, verbot ihm, je wieder einem Menschen unter die Augen zu treten.

Auf einer Lichtung traf Isenbrand ein altes Weib, das dort offenbar Kräuter pflückte. Als sie ihn sah, wich sie ehrfurchtsvoll zurück. "Meister!" krächzte sie.

I senbrand schöpfte neue Hoffnung. "Du kannst mir einen Dienst erweisen", sprach er, "führe mich in deine Hexenküche, dort werde ich dir mehr erzählen."

Sie leistete eifrig Folge und brachte ihn zu einer Höhle, in der ein großer Kessel über einer Feuerstelle hing; allerlei Krüge mit Essenzen, Mixturen und den verschiedensten Zutaten, wie etwa Alraune, zerriebenes Rattengebein und Schlangenzungen, füllten die Regale, die ringsum an den Wänden standen.

Isenbrand packte die Alte am Kragen. "Nun hör mir gut zu!" herrschte er, " ich bin nicht der, für den du mich hälst. Ich bin Isenbrand, Isegrims Sohn, der Held zahlreicher Schlachten. Der Widersacher hat Besitz von mir ergriffen. Wenn dir dein jämmerliches Leben lieb ist, rate ich dir, mir zu helfen. Sicherlich hast du die richtige Medizin für mich hier, und falls nicht, wirst du wohl imstande sein, sie mir zu bereiten. Und ich rate dir: Versuche nicht, mich zu vergiften, denn du wirst mein Vorkoster sein!"

"Ich kann dir nicht helfen!" zischte ihm die Hexe entgegen, "du bist verloren! Den Teufel kann niemand besiegen!"

In blinder Wut zog Isenbrand sein Schwert und schlug ihr kurzerhand den Kopf ab.

Er wandte sich um und versank tief in Gedanken. Lange stand er da und stierte wie ein Wahnsinniger ins Leere.

Dann, sich noch ein letztes Mal des Hier und Jetzt erinnernd, stellte er sich in den Eingang der Höhle und brüllte hinaus: "Gibt es denn nichts und niemanden auf der Welt, das stärker ist als die Hölle?"

Als Anwort kam nur das Echo zurück.

"Der Wald äfft mich spottend nach", keuchte Isenbrand, "- seis drum, dann sollst du mit mir untergehen." Wahllos kippte er von dem Hexengift in sich hinein. In beginnender Umnachtung wankte er hinaus und irrte umher, bis er zusammenbrach und vor Pein sich windend elendiglich verendete.

So starb Isenbrand, Isegrims Sohn, und ward schnell vergessen. Doch das ätzende Gift zerfraß seinen Leichnam, und das faule Blut entströmte, tränkte den schwammigen Boden, verseuchte wieder alle Quellen und ließ ein dichtes Dornendickicht wuchern.

Fleischliche Begierde

Es passierte in allerÖffentlichkeit, in einem Restaurant.

An einem Tisch am Fenster hatte ich Platz genommen. Ich hatte meine Krawatte ein wenig gelockert und den obersten Knopf meines Hemds geöffnet, denn es war drückend heiß an diesem Tag. Die Schwüle drang überall ein, die Luft schien sich verflüssigt zu haben, immerfort hatte man das Gefühl ersticken zu müssen.

Das Lokal war gutbesucht, es dauerte eine Weile bis ich bedient wurde. Ich hatte eine Zeitschrift vor mir liegen und las einen Artikel über die Eingeborenen von Neuguinea, als ich eine weibliche Stimme vernahm: " Haben Sie gewählt ?"

Sie hatte einen blassen Teint, der ihre roten Lippen besonders hervortreten ließ. "Ich möchte Rindszunge und einen dreiundachtziger Beaujolais", sagte ich. Sie notierte sich die Bestellung auf einem Schreibblock, bedankte sich und ging davon. Ihr dunkles Haar hatte sie hochgesteckt, sodaß ihr zierlicher Nacken sichtbar war. Eine Studentin vielleicht, dachte ich, die sich hier ein wenig Geld verdient.

Draußen waren die Straße und die gegenüberliegenden Häuser in ein seltsam gelblich-unnatürliches Licht getaucht.

Sie brachte den Wein und legte mir Besteck und Serviette hin. Ihre Hände waren schmal, ihre Finger feingliedrig und ihre Nägel gut gepflegt; ich weiß nicht, warum mir der Gedanke kam, daß Hände etwas penetrant tierhaftes an sich haben. Ich mußte an die Pfoten eines Wiesels oder Marders denken.

Die Hitze wurde immer unerträglicher. Ich trank einen Schluck von meinem Wein und genoß seinen vielschichtigen Geschmack; k&uum l;hl rann er meine Kehle hinunter. Plötzlich hörte ich Lärm draußen, ein wildes Knurren und Kläffen. Vorm Fenster waren ein Schäferhund und ein Dobermann aneinandergeraten. Ihre Herrchen zogen fluchend an den Leinen, Passanten mußten stehenbleiben, jemand beschimpfte die Hundebesitzer.

Sie kam mit dem Essen. Wahrscheinlich war sie mit dem Teller gegen mein Glas gestoßen; jedenfalls kippte es um und entleerte sich auf den Tisch. Seufzend entfernte sie sich. Eine rote Lache hatte sich gebildet; das weiße Tischtuch sog die Flüssigkeit auf, es bildete sich ein Fleck, der allmälig größer wurde und seine Form veränderte.

Sie brachte ein neues Tischtuch. Während sie dabei war, alles wieder in Ordnung zu bringen, genoß ich ihre Nähe und atmete ihren Duft in mich ein, dem kaum wahrnehmbar der Geruch von Schweiß beigemischt war. Als sie fertig war, nahm ich das Besteck und begann zu essen. Behaglich zerkaute ich das zarte Fleisch und schlang es hinunter, den kühlen Beaujolais nachgießend. Nach meinem Mahl lehnte ich mich zurück und strich langsam mit der Zunge über die Zähne. Wie lang und spitz doch unsere Eckzähne sind, dachte ich, sie ragen zwischen den anderen Zähnen hervor wie die Reißzähne eines Raubtiers.

Für einen Augenblick hatte sie nichts zu tun und lehnte am Tresen, sie stand dort wie einReh auf einer Lichtung. Ich winkte sie zu mir. Sie kam herbei und sprach mich an, aber ich verstand sie nicht, sie schien nur unartikulierte Laute von sich zu geben. Glühende Hitze überzog mein Gesicht. Ein tiefes Verlangen, das ich bislang unterdrückt hatte, wurde immer stärker. Geduckt und zusammengekauert saß ich auf meinem Stuhl. Dann schnellte ich hoch ...

Jemand packte mich von hinten und zerrte mich von ihr weg. Sie sank zu Boden, noch immer hörte ich ihren Schrei. Im Restaurant war es still geworden, alle Blicke waren auf mi ch gerichtet. Schweißperlen standen mir auf der Stirn, und Schweiß durchnäßte mein Hemd; ich war von einer Atmosphäre aus Wasserdampf umgeben. Mein Puls hämmerte, Schauder durchzuckten mich. Nur allmählig atmete ich wieder ruhig.

Ein Mann und eine Frau halfen ihr wieder auf die Beine und führten sie zu einem Stuhl. Schmerzverzerrt war ihr Gesicht, eine Hand hielt sie an ihren Hals. Zwischen ihren Fingern kam Blut hervor und floß in schmalen, sich vereinigenden Rinnsalen ihren nackten Unterarm herab.

Stimmen redeten durcheinander. "Abscheulich!" - "Wer hätte das gedacht?" - " Diese Bestie!" - "Widerwärtig!" - "Man muß ihn einsperren!"

Die Stimmen schienen von weit her zu kommen, nur vage nahm ich sie wahr. Kühle legte sich über mein Gesicht, ich spürte einen Luftzug; vor den gekippten Fenstern bewegten sich die Vorhänge. Draußen begann es zu regnen.

Ihr Zug damals

Eine Durchsage hallte durch die Bahnhofshalle. Intercity Strasburg-Berlin Abfahrt 10.50 Gleis 4.

Auf einer Bank saß ein Mann in einem schäbigen Wollmantel; er war etwa Mitte vierzig, sein graumeliertes Haar war ungekämmt und sein Kinn unrasiert. Er war in eine Zeitung vertieft, Wirtschaftsteil. Tarifstreit in der Metallindustrie. Kohlebergbau: Zahlreiche Kumpel entlassen. Stellenabbau im öffentlichen Dienst. Jochen Wentz, der die düsteren Prognosen nicht ernst genommen hatte, saß nun selbst auf der Straße. Für Metallarbeiter schien kein Bedarf mehr zu sein, alles wurde automatisiert.

Eine Gruppe von Zugreisenden kam aus der Unterführung. Geschäftsleute, Arbeiter, Schüler, Angestellte und Globetrotter. Sie war nicht dabei. Eigentlich war es absurd, hier auf sie zu warten; doch es zog ihn einfach hierher. Mittlerweile war es ihm auch zur Gewohnheit geworden, jeden Tag zum Bahnhof zu kommen, nun, da er alle Zeit der Welt hatte. Es gab ihm etwas von der Geborgenheit des Alltags, morgens zeitig das Haus zu verlassen und abends spät zurückzukommen.

Wentz beobachtete die Wartenden auf den Bänken und die Reisenden, die an ihm vorübereilten. Vor einer Glasvitrine stand ein älteres Ehepaar und studierte schon seit einer Viertelstunde den Fahrplan. Ein Luftzug ging durch die Halle. Wie der Wind, der durch Dianas Haar strich, damals, an jenem Sonntagnachmittag im Stadtpark. Er sah Dianas Gesicht, ihre flächigen Wangen, und ihre junge, frische Haut. Er stand mit ihr am Teich. Im Wasser schwammen Enten, die Wentz mit Brotkrumen fütterte.

"Vielleicht haben diese Rationalisierungsmaßnahmen in eurem Betrieb doch etwas Gutes", meinte Diana, "Schließlich hast du jetzt wieder einen neuen Arbeitsplatz in Aussicht. So ein Tapetenwechsel wird dir sicher guttun."

"Man muß aber von guten Kollegen Abschied nehmen", sagte Wentz, "immerhin hat man sich aneinander gewöhnt."

"Du kannst sie ja ab und zu noch treffen", meinte Diana, "und mit deinen neuen Kollegen wirst du dich bald anfreunden."

Unter den Bäumen huschte ein Eichhörnchen umher.

"Diana?", hub Wentz an und stockte.

"Jochen?", fragte sie und wandte sich ihm zu.

Wentz kaute nervös auf seiner Lippe herum. "Wir leben doch nun schon seit über vier Jahren zusammen."

"Und?"

"Da dachte ich, ich meine - ich wollte dich fragen - ob du mich heiraten willst."

Für einen Moment war sie sprachlos. "Ist das dein Ernst?" fragte sie dann.

"Natürlich ist es mein Ernst", erwiderte er irritiert, "warum sollte ich scherzen? Findest du meinen Antrag lächerlich, weil ich fünfzehn Jahre älter bin als du?"

"Ach, Unsinn", sagte sie "du weißt, daß mich das nie gestör t hat. Aber - du hast das Thema Heirat nie angesprochen."

"Na und? Hast du dir denn nie darüber Gedanken gemacht?"

"Ich weiß nicht", sagte sie und starrte ins Wasser.

Als sie eine Woche später mit dem Zug nach München abfuhr, winkte sie ihm nicht; sie saß in ihrem Abteil ohne nach draußen zu schauen. Sie wollte eine Weile bei ihrer Schwester wohnen, um über alles nachzudenken.

Intercity Stuttgart-Köln Abfahrt 11.20 Gleis 8.

Wie ein Fetisch trug Wentz immer noch diesen Brief mit sich herum. Aufgrund einer plötzlichen Änderung unserer wirtschaftlichen Situation sind wir momentan nicht in der Lage neue Mitarbeiter einzustellen. Diana hatte sicherlich wieder eine neue Stellung als Sekretärin gefunden. Sie konnte sich selbst versorgen und sich in München eine neue Existenz aufbauen.

Bei dem alten Ehepaar vor der Fahrplanvitrine stand ein hagerer Mann mit stark gerötetem Gesicht und redete auf sie ein. Wentz kannte ihn; außer diesem öligen Wollpullover, diesen abgewetzten braunen Kordhosen, diesen schmutzstarrenden Turnschuhen und vielleicht seiner Unterwäsche schien er keine Kleidungsstücke zu besitzen. Wentz wußte noch genau, wie er das erste Mal von ihm angesprochen worden war: "Biste Raucher? Nee? Haste vielleicht ne Mark für mich? Nur ne Mark, damit ich mir'n Brötchen holen kann. - Oh, hab Dank, hab vielen Dank!" Er zwang Wentz einen Handkuß auf, es war eine peinliche Situation. "Vielen Dank nochmal, Gott segne dich! Und paß auf dich auf, das hier ist eine böse Stadt!" Inzwischen hatte sich Wentz mit diesem und anderen Stadtstreichern angefreundet. Viele waren auf der Durchreise; fast täglich lernte er neue kennen. Ständig kam einer von ihnen, um sich von ihm "Kohle" zu pumpen. Diesmal erhob sich Wentz und ging zum Fernsprecher als wolle er telefonieren. Gelegentlich konnte man ihren A nschlägen entgehen.

Mit seinen alten Freunden wollte Wentz sich nicht mehr treffen. Sollte er sich immerzu mitanhören müssen, wie sie von ihren Familien und ihrem Arbeitsplatz erzählten?

Dann und wann wurde er von einem Bahnhofsbeamten gebeten, die Halle zu verlassen, dies sei kein Platz zum Herumlungern. Was wußten die schon! Wentz versuchte erst gar nicht Erklärungen abzugeben, es wäre ohnehin zwecklos gewesen.

Italia-Express Dortmund-Florenz Abfahrt 11.38 Gleis 7.

Er mußte eingenickt sein, denn er hatte nicht bemerkt, daß sich ihm jemand genähert hatte. "Bist du's?" fragte eine Kinderstimme. Vor ihm stand ein kleines Mädchen in einem blauen Kleid.

"Wer soll ich sein?" fragte er.

"Mami sagte, er werde am Bahnsteig auf mich warten. Ich weiß nicht richtig, wie er aussieht, denn als er das letzte Mal bei uns war, war ich noch ganz klein."

"Bist du ganz allein mit dem Zug gefahren?"

"Nein, da war ein Mann im Zug, den Mami und Papi kennen. Er macht den Leuten Löcher in ihre Fahrkarten, weißt du. Der hat auf mich aufgepaßt. Ich durfte in seiner Kabine bleiben."

"Wen suchst du?"

"Meinen Onkel suche ich, Onkel Tobias. Er wollte mich am Bahnsteig abholen, aber er war nicht da. Bist du's vielleicht?"

Er schaute das Mädchen nachdenklich an.

"Ja, natürlich!", lachte er dann, "ich bin's!" und drückte das kleine Mädchen an sich.

"Du mußt entschuldigen", sagte er "ich - war eine Dreiviertelstunde zu früh hier und dachte, ich könne zuerst hier in der Halle warten. Ich bin wohl dabei eingeschlafen. Aber du hast mich ja gefunden!"

Er setzte sich zurück, seine Hände an ihren herabhängenden Armen.

"Auf den Bildern zuhause siehst du ein bißchen anders aus", sagte das Mädchen, "Über haupt hab ich dich mir anders vorgestellt. Du bist ganz strubbelig und hast Stacheln im Gesicht. Und du miefst!"

"Oh, entschuldige", lachte er verlegen, "ich - ich hatte heute morgen keine Zeit mich frisch zu machen. Ich - mußte jemanden zur Arbeit bringen, danach bin ich gleich hierhergekommen."

Das Mädchen musterte ihn mit schiefgehaltenem Kopf. "Naja, ich glaube, du bist trotzdem ganz nett", sagte es.

"Wieso denkst du das?" fragte Wentz.

Die Kleine zuckte mit den Schultern. "Hier", sagte sie nach einer Weile und reicht ihm eine weiße Nelke, "für dich und Tante Melanie."

"Oh, danke, das ist lieb von dir" sagte Wentz lächelnd und nahm die Blume.

"Die hab ich bei uns im Garten gepflückt. Schau nur, wie traurig sie ist. Ich hätte sie lassen sollen, wo sie war." Die Nelke hatte schon zu welken begonnen.

"Wo ist eigentlich Tante Melanie?" fragte das Mädchen.

"Deine Tante - ist zuhause und macht das Essen. Du wirst sie ja später sehen."

"Anja, da bist du ja!", sagte eine Frau, die soeben hinzugetreten war, und nahm das Mädchen auf den Arm.

"Tante Melanie?", fragte die Kleine verwundert.

"Ja, mein Kind", sagte die Frau, " ach, ich mache mir ja solche Vorwürfe. Du ganz allein auf dem Bahnhof! Bin ich froh, daß du nicht verloren gegangen bist! Bitte verzeih, daß ich so spät komme, ich hatte den Verkehr unterschätzt."

"Onkel Tobias erzählte mir, du seist zuhause", sagte Anja.

"Onkel Tobias?" sagte Tante Melanie und warf Wentz einen mißtrauischen Blick

zu, "ich weiß nicht wer dieser Mann ist, dein Onkel Tobias ist es jedenfalls nicht." Sie setzte das Kind wieder ab, nahm es bei der Hand und ging mit ihm Richtung Ausgang. Anja schaute fragend zurück. Dann schloß sich die T&u uml;r hinter ihnen. Das alte Ehepaar an der Fahrplanvitrine war längst verschwunden, kein Reisender durchquerte den Raum, auch der Penner war nicht mehr zu sehen; die Halle war menschenleer. Ebenso waren draußen keine Züge mehr zu hören, für einen Augenblick war der Bahnhof wie ausgestorben.

Wentz schnupperte an der Nelke: Sie duftete nur noch schwach. Ich weiß nicht, wer dieser Mann ist, dein Onkel Tobias ist es jedenfalls nicht. Was mochte die Frau von ihm denken?

Die Halle war mit einemmal so weit und kalt wie das All.

Dort drüben gähnte der Eingang zur Unterführung. Ein Gedanke kam in ihm auf und umschmeichelte ihn so zärtlich und sanft wie die Küsse einer Frau. Er brauchte nur etwas Mut, binnen Bruchteilen einer Sekunde würde esüberstanden sein.

In der Unterführung roch es nach Urin.

Intercity Frankfurt - München Abfahrt 14.05 Gleis 2. Das war ihr Zug damals, dachte er. Jetzt war es fünf vor, noch zehn Minuten. Er stand am Bahnsteig und wartete. Der Sekundenzeiger der Bahnhofsuhr bewegte sich langsam und kontinuierlich, ohne Rhythmus, ohne innezuhalten.

Die Gleise lagen vor ihm wie ein Gerippe

Am Bahnsteig drängten sich Menschen. Einige starrten wie gebannt hinab - manche stellten sich auf die Fußspitzen und reckten die Hälse, um etwas erkennen zu können -, andere wandten sich gleich angewidert ab; jemand übergab sich. Ein Bahnhofsbeamter schob sich vor sie. "Zurück bitte, meine Herrschaften, zurück!" Etwas abseits der Menge stand ein hagerer, heruntergekommener Mann der einen öligen Wollpullover und abgewetzte braune Kordhosen trug. Mit geschlossenen Augen schnupperte er an einer weißen Nelke, die er vom Boden aufgehoben hatte.

Stimmen redeten durcheinander: "Wie schrecklich!" - "Warum hat er das getan?" - "Ein Penner war's!" - "Ich hab genau gesehen, wie's passiert is t, genau gesehen!"

Jemand rempelte Wentz an und holte ihn in die Gegenwart zurück.

In der Ferne sah er den Zug, wie er sich näherte. Unaufhaltsam rollte er heran, eine tonnenschwere, zermalmende Masse, verloren war alles, was zwischen Räder und Schienen kam. Wentz stand an der Vorderkante des Bahnsteigs.

Er warf noch einen Blick auf die welke Blume. Es war Zufall, daß sich gerade in diesem Augenblick ein Blütenblatt löste und hinabfiel. Der Zug rauschte vorbei, ein Wirbelwind stob durch Wentzens Haar, Bremsen quietschten, und langsam kam der Zug zum Stehen. Die Waggontüren öffneten sich, Reisende stiegen aus und Wentz trat zurück. Zögernd mischte er sich unter die Angekommenen und ließ sich in ihrem Strom treiben. Er verließ den Bahnhof und ging lange ziellos vor sich hin, durch Straßen und Fußgängerzonen, an unzähligen Schaufenstern und Wohnblocks vorbei. Schließlich fand er sich unter Ahorn - und Lindenbäumen wieder, links und rechts erstreckten sich weite Rasenflächen, Kies knirschte unter seinen Füßen. Er kam an einen Teich, der von Birkenbäumen umstanden war. Die Zweige und Blätter der Bäume bewegten sich im Wind wie Mobiles. Die spiegelnde Wasseroberfläche verdoppelte die Landschaft und öffnete sie nach unten zu einem zweiten Himmel hin.

Am Teichufer setzte er sich ins Gras. Die Nelke hatte er immer noch in der Hand. Er warf sie ins Wasser, wo sie an der Oberfläche langsam davontrieb.

Zum Bahnhof würde er nicht mehr gehen, und ab morgen würde er sich wieder ernsthaft nach Arbeit umsehen.

Zwischen den goldenen Strahlen der Sonne sah er Spinnfäden aus dem Nichts ins Leere treiben. Ein blaßblauer Schmetterling flatterte vor ihm vorbei, gaukelte um seine Hand und flog dann himmelwärts davon.

Hinter den Kulissen

mit messerscharfer Geistesklinge

schneiden wir uns Halbwahrheiten

aus dem Leib der Wirklichkeit

woraus wir dann Lügen klonen

Worte schieben wir uns zu

wie festverschlossene Kapseln

wir wissen nicht und fragen nicht

was darin wohl enthalten ist

und während wir uns streiten

über Recht und die Moral

und eifrig nach der Wahrheit suchen

die uns nur Grimassen zieht

sitzen irgendwo im Nirgendwo

der liebe Gott und Luzifer

zusammen bei Gebäck und Tee

und spielen Rollenspiele




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© 1996 by Steven Duplij