DFG-Projekt: Konsumrevolution und Wandel des Konsums von Haushalten im Spiegel von Nachlassverzeichnissen (frühes 16. bis frühes 19. Jahrhundert, Nordwestdeutschland)

Leitung: Jun.-Prof. Dr. Christine Fertig

Bearbeitung: Henning Bovenkerk, MA/MEd

Das seit Januar 2020 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Projekt untersucht, in wie weit die These einer frühmodernen Konsumrevolution für das nordwestdeutsche Binnenland zutrifft. Unter Konsumrevolution wird dabei die Neuorientierung der Bedarfsdeckung frühmoderner Haushalte von einer primär subsistenzorientierten Hauswirtschaft zu einem auf Marktprodukte ausgerichteten ökonomischen Verhalten verstanden. Es basiert auf der Analyse von Nachlassinventaren und der in ihnen widergespiegelten materiellen Kultur frühneuzeitlicher Haushalte. Das Projekt strebt die Auswertung mehrerer kontrastierender Untersuchungsgebiete aus dem westfälischen Münsterland an, die sich durch unterschiedliche Faktoren, wie variierender gewerblicher Durchdringung, sozioökonomischem Setting und Entfernung zu städtischen Zentren, unterscheiden.

  • Konsumrevolution in Nordwestdeutschland?

    Die kontrovers diskutierte These einer frühmodernen Konsumrevolution beschreibt einen Wandel der materiellen Kultur, in dem die Bedarfsdeckung vormoderner Haushalte zunehmend über den Kauf von Marktgütern auf Kosten von haushaltsbasierter Subsistenzproduktion erfolgte. Demnach fanden sich in Haushalten zum einen immer größere Mengen differenzierter Manufakturgüter, zum anderen global gehandelte Kolonialwaren, wie Kaffee, Tee, Zucker, Porzellan, Baumwolle, etc. Diese Entwicklung berührte nicht nur urbane Eliten, die sich einer an adeliger Prachtentfaltung orientierten Lebensführung verpflichtet sahen, sondern zunehmend auch – so die These – das kleinstädtische Bürgertum und ländliche Haushalte. In allen gesellschaftlichen Schichten breiteten sich populuxe goods aus – kleinere, relativ billige Dinge wie bunte Bänder oder bedruckte Taschentücher, die sich viele Menschen leisten konnten, und die dadurch signifikante Marker für die weitere Entwicklung der materiellen Kultur setzten. Zeitlich werden die Anfänge dieser Veränderung im 17. und 18. Jahrhundert verortet, geographisch wurden sie bisher vornehmlich für die nordatlantischen Anrainergebiete, vor allem England und die Niederlande, diskutiert. Die Untersuchung von Veränderungen der materiellen Kultur vormoderner Haushalte unter dem Blickwinkel der These einer Konsumrevolution berührt zwei historiografische Diskurse: Einerseits die Debatte um die Voraussetzungen der Industriellen Revolution und der ‚Great Divergence‘; andererseits die Analyse der Wirtschafts- und Konsumstrategien vormoderner Haushalte im Zusammenhang mit Marktbildung.

  • Das Projekt

    Das Projekt untersucht anhand des Wandels der materiellen Kultur ländlicher Haushalte für den Zeitraum von etwa 1550 bis 1808, wie weit die These einer vormodernen Konsumrevolution für das nordwestdeutsche Binnenland Gültigkeit beanspruchen kann. Es geht dabei über bisherige Studien zu Deutschland hinaus, die mit einer weitgehenden Konzentration auf städtische Räume nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung in den Blick genommen haben.
    Die These der Konsumrevolution kann unter wirtschaftshistorischen, sozialgeschichtlichen und kulturgeschichtlichen Perspektiven untersucht werden. Das Projekt strebt in erster Linie eine an wirtschaftshistorischen Themen orientierte quantitative Sozialgeschichte an, die signifikante Elemente einer sich wandelnden materiellen Kultur in den Blick nimmt und diese auf konsistente Bezüge einer möglichen Konsumrevolution hin untersucht. Darüber hinaus wird ein Beitrag zum Wandel von Konsumkultur geleistet, indem Praktiken von Bedarfsdeckung und Konsum differenziert nach sozialen Kontexten und Lebensläufen anhand ausgewählter Fallbeispiele in den Blick genommen werden. Die sozialen Praktiken werden so zeitgenössischen normativen Aussagen, wie sie in etwa Aufwandsbeschränkungen nachzuvollziehen sind, gegenübergestellt und können als praktischer Sinn der Aneignung materieller Kultur verstanden werden.

  • Quellen und Untersuchungsraum

    Die Quellenbasis für das Projekt bilden westfälische Nachlassverzeichnisse, die so genannten Sterbfallverzeichnisse. Diese Nachlassinventare entstanden im Kontext der Eigenbehörigkeit, der vorherrschenden Form der persönlichen Unfreiheit von Bäuerinnen und Bauern in Westfalen. Durch die Abhängigkeit zum Grundherren erwuchs der Anspruch des Herrn beim Tod eines/r Eigenbehörigen auf bis zur Hälfte des mobilen Besitzes des/r Verstorbenen. Zur Berechnung dieser Abgabe wurden die Inventare angelegt, die in reichlicher Anzahl überliefert sind.
    Kriterien für die Auswahl der gewählten Untersuchungsorte waren, neben einer ausreichenden Überlieferung, die geographische Lage – gemeint ist insbesondere die unterschiedliche Distanz zu den Niederlanden als einem Kernland der frühneuzeitlichen Konsumrevolution –, ihre unterschiedlichen sozio-ökonomischen und konfessionellen Kontexte, insbesondere mit Blick auf die gewerbliche, proto-industrielle Durchdringung der lokalen Wirtschaft und ein qualitativ und quantitativ ausreichender Quellenbestand, möglichst über den gesamten Beobachtungszeitraum hinweg.

  • Publikationen und Vorträge

     

    Aktuelle Publikation:

    Henning Bovenkerk / Christine Fertig: Consumer revolution in north-western Germany: Material culture, global goods, and proto-industry in rural households in the seventeenth to nineteenth centuries', The Economic History Review 76,2 (2023), 551-574.
    [DOI: https://doi.org/10.1111/ehr.13192]

    Vorträge:

    Henning Bovenkerk: 'Farm system, protoindustry and the ‘noble touch’: Preconditions of changing consumption in rural Northwestern Germany, late 16th to early 19th centuries', International workshop: The consuming countryside. Rural material living standards, consumption patterns, and economic growth, 17th-19th centuries, 15.-16. December 2023, Antwerpen.

    Christine Fertig: Social class, rural economy and living standards in North-western Germany. The material culture of probate inventories in proto-industrial and agricultural communities, Vortrag auf der Rural History 2023, 11.-14. September 2023, Cluj-Napoca, Rumänien.

    Henning Bovenkerk: " Living on Alms in the Countryside. Material Culture of the Rural Poor, Northwestern Germany, 17th -18th Centuries", Vortrag auf der 14. European Social Science History Conference, 12.-15. April 2023, Göteburg/Schweden.

    Henning Bovenkerk: "Materielle Kultur armer ländlicher Haushalte in Nordwestdeutschland im 18. Jahrhundert", Vortrag auf dem V. Kongress für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 'Verteilung und Teilhabe: Konflikte in polarisierten Gesellschaften seit dem Mittelalter', 29.-31. März 2023, Leipzig.

    Christine Fertig: Globale Güter und die frühneuzeitliche Konsumrevolution. Schöne Stoffe, Kaffee und andere Drogen in Nordwestdeutschland (17. – 19. Jahrhundert), Vortrag in der Ringvorlesung Histoire globale / Globalgeschichte / Global history (F/D/E), 17. November 2022, Universität Luxemburg.

    Henning Bovenkerk: North-western Germany and the early modern Consumer Revolution: Global goods and material culture in rural households, Westphalia 17th c. – 18th c., Vortrag auf der German Studies Association Conference 2022, 15.-18. September 2022, Houston, Texas.

    Henning Bovenkerk: Of silver, silk and stoneware - consumption and change of consumption in rural areas of North-Western Germany, 17th and 18th centuries, Vortrag auf der Rural History Conference 2021, 20.-23. Juni 2022

    Henning Bovenkerk: Reflections of consumption. Changing language and consumption in probate inventories; Northwestern Germany, 17th and 18th centuries, Vortrag beim Workshop Languages of Consumption in the Eighteenth and Nineteenth Centuries, Mai 2022, Basel

    Henning Bovenkerk: Age, family and consumption: Material culture of rural households, 17th and 18th centuries, Vortrag beim Högre seminarium i agrarhistoria, Januar 2021, Sveriges lantbruksuniversitet, Uppsala

    Christine Fertig: Konsumrevolution in Nordwestdeutschland? Materielle Kultur, globale Güter und Proto-Industrie in ländlichen Haushalten (17.-19. Jh.), Vortrag im Forschungskolloquium, Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte (Prof. Dr. W. Plumpe), 30.November 2021, Universität Frankfurt.

    Henning Bovenkerk / Christine Fertig: Sweet Coffee and Pretty Fabrics: Global Goods in Rural Households (Northwestern Germany, 17th/18th Centuries), Vortrag auf der Tagung Encountering the Global in Early Modern Germany, 1./2. Juli 2021, Tübingen.

    Henning Bovenkerk:Quantitative Agrargeschichte und digitale Hilfsmittel, Vortrag auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Agrargeschichte 2021, Juni 2021, Frankfurt a.M.

    Henning Bovenkerk:... aus Jhren Mitteln gekauft ... Die Entstehung ländlicher ‚consumer markets‘ in Nordwestdeutschland; 17., 18. und frühes 19. Jahrhundert, Vortrag auf dem 4. Kongress für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, April 2021, Wien.

    Henning Bovenkerk: Silk for the Peasants? – Global Goods in Rural Households in 17th and 18th Century Northwestern Germany, Vortrag auf der European Social Science History Conference 2021, März 2021, Leiden.

    Henning Bovenkerk: A silver spoon engraved with J:H:H. Changes of materials, shapes and colours in probate inventories of rural households; north-western Germany, 17th-18th centuries, Vortrag bei der Material and Visual Culture Seminar Series, University of Edinburgh, November 2020.

    Henning Bovenkerk: Cortun, Boomsiede and Sarßen: Cotton textiles in rural households of Northwestern Germany, 17th, 18th and early 19th centuries, Vortrag bei den Graduate Economic History Seminars, London School of Economics, November 2020.

    Henning Bovenkerk / Christine Fertig: The spread of the consumption of colonial groceries in Northwestern Germany during 18th and 19th centuries, Vortrag auf der Konferenz Rural History 2019, Session: The introduction of colonial products (coffee, chocolate, sugar, tea, tobacco) in the European countryside. A “consumer revolution“?’, organisiert von Gérard Béaur (Paris) und Rosa Congost (Girona), 10.-13. September 2019, Paris, Frankreich.

    Henning Bovenkerk / Christine Fertig: Konsumrevolution in Nordwestdeutschland. Wandel des Konsums von Haushalten im Spiegel von Nachlassverzeichnissen vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert, Vortrag auf dem 3. Kongress für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Session ‚ Zeit, Arbeit und Bedarfsdeckung: Gab es in Deutschland im 18. Jahrhundert eine Konsum- und Fleißrevolution?‘, organisiert von Christine Fertig und Ulrich Pfister, 20-23. März 2019, Regensburg.

    Christine Fertig: Sweet Coffee, Pretty Scarves? Colonial Goods and Rural Households in the 19th century, Vortrag auf der 12th European Social Science History Conference, Session: ‘Global Goods in Early Modern Europe’, organisiert von Christine Fertig und John Jordan , 4.-7. April 2018, Belfast, Nordirland.

    Henning Bovenkerk: Cupboards, Clothes and Crockery: Material Culture and Consumer Revolution in 18th century, Vortrag auf der 12th European Social Science History Conference, Session: ‘Global Goods in Early Modern Europe’, organisiert von Christine Fertig und John Jordan , 4.-7. April 2018, Belfast, Nordirland.