Einführungen in die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts | ||
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EPIDEMIOLOGISCHER ÜBERGANG
(tl) Als epidemiologischen Übergang bezeichnet man den Rückgang von Mortalitätskrisen, die durch endemisch oder epidemisch auftretenden Infektionskrankheiten ausgelöst wurden. Dieser Prozess war vielschichtig und erstreckte sich über drei Jahrhunderte.
Zunächst verschwanden die periodischen Pestepidemien in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts fast überall aus Europa (das letzte Mal brach sie 1721 in Marseille aus). Auch die übrigen endemisch oder epidemisch auftretenden Infektionskrankheiten (Pocken, Ruhr, Typhus, Grippe, Tuberkulose) verloren an Intensität. Mit Ausnahme der Pocken, welche Anfang des 19. Jahrhunderts durch Kuhpockenimpfungen erfolgreich bekämpft wurden, hielten sie sich jedoch noch länger: ihre endgültige Eindämmung zog sich zum Teil bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.
Der epidemiologische Übergang ist - abgesehen von den oben angesprochenen Impfungen - auf unterschiedliche Gründe zurückgeführt worden. Ein prominenter Erklärungsansatz betont die Wichtigkeit des Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzenden Prozesses medizinischer Innovationen (moderne Krankenhäuser, Professionalisierung der Ärzteschaft, Beginn der öffentlichen Gesundheitspflege im Absolutismus). Hiergegen ist aber einzuwenden, dass die Krankenhäuser bis weit ins 19. Jahrhundert wohl eher zu mehr zu als weniger Sterbefällen geführt haben dürften: die eingelieferten Patienten wurden nämlich nicht nur nicht von ihrer ursprünglichen Krankheit geheilt, sondern steckten sich zusätzlich noch mit anderen an. Zudem fällt die Eindämmung großer Epidemien (Bronchitis, Keuchhusten, Lungenentzündung, Masern, Scharlach, Tuberkulose) in eine Zeit, in der erfolgreiche Mittel zur Immunisierung oder Therapie dieser Krankheiten noch nicht verfügbar waren.
Des weiteren wird ein steigender Lebensstandard (insbesondere ein bessere Ernährung) infolge steigender Reallöhne als Grund für epidemiologischen Übergang angeführt. Allerdings darf in Zweifel gezogen werden, ob der Lebensstandard durch die (in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlichen) Reallohnerhöhungen tatsächlich anstieg: eventuelle Verbesserungen wurden wohl in den meisten Fällen durch dramatisch verschlechterte Lebensbedingungen der Arbeiter in den wachsenden Großstädten überkompensiert.
Vor dem Ersten Weltkrieg dürfte die Eindämmung von Infektionskrankheiten in vielen Fällen (Cholera, Typhus) vor allem auf kommunale Initiativen im Bereich der öffentlichen Gesundheit (Trinkwasserversorgung, Schwemmkanalisation, Maßnahmen zur Einschränkung der Luftverschmutzung und zur Lebensmittelkontrolle) zurückzuführen sein. Insgesamt allerdings kann die Diskussion über die Gründe des epidemiologischen Überganges als noch weitgehend ergebnisoffen bezeichnet werden.
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