Die Flores temporum wurden am Ende des 13. Jahrhunderts in Süddeutschland von einem anonymen schwäbischen Minoriten verfaßt. Die als Papst-Kaiser-Chronik konzipierte Weltchronik berücksichtigt anders als konkurrierende Werke - etwa die einige Jahrzehnte früher verfaßte Chronik des Martin von Troppau - auch die vorchristliche Geschichte. Sie folgt der Einteilung in sechs Weltalter und vereinigt das Grundmuster spätmittelalterlicher Universalgeschichte mit oft regional geprägten Nachrichten unterschiedlicher thematischer Bereiche. Die Flores temporum sind bis zum 15. Jahrhundert im gesamten süd- und westdeutschen Raum über Mitteldeutschland mit Ausläufern bis nach Polen in bislang mehr als 100 bekannten Handschriften des Volltextes und in zahlreichen Exzerpthandschriften überliefert (Index der bekannten Handschriften). Sie wirkten als Vermittler reicher universalhistorischer Wissensbestände. Ihre in zahlreichen Fällen nachgewiesene Benutzung in regionaler Chronistik und in reichsgeschichtlichen Werken macht deutlich, daß die Flores temporum einer jener einflußreichen Schlüsseltexte sind, auf denen im Spätmittelalter die historiographische Produktion basierte.
Die Erarbeitung der Text-, Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte der Flores temporum bildet seit 1990 den Kernbereich der Projektarbeit. Die Untersuchung der Textgeschichte und Rezeptionswege der Flores temporum sowie die Erarbeitung einer Typologie der sie überliefernden Sammelhandschriften sollen als Modell dienen, um weit verbreitetes Kompilationsmaterial formal und inhaltlich zu erschließen. Signifikant für die Wirkungsgeschichte der Chronik sind verschiedene Textstufen, zahlreiche Fortsetzungen, Bearbeitungen und regionale Adaptationen, die bereits kurz nach der Entstehung im Ausgang des 13. Jahrhunderts einsetzen und die weitere Textgeschichte bis ins späte 15. Jahrhundert hinein immer wieder neu geprägt haben. Vordringliche Aufgabe ist es daher, die teilweise stark divergierenden Textfassungen mit ihren im Verlauf der Überlieferung und Benutzung sich wandelnden Gebrauchsformen sichtbar zu machen.
Ziel ist es, wichtige Aufschlüsse über die Verfahren und Texttypen zu erarbeiten, in denen historisches Wissen aufbewahrt wurde, die Zusammenhänge, in denen es weitertradiert, umgedeutet, bearbeitet oder benutzt wurde. In den Blick kommt dabei auch die Nutzung von Geschichtsüberlieferung in der Praxis, ihre Instrumentalisierung für politische, propagandistische und didaktische Zwecke, kurz: ihr pragmatischer Gebrauch. Die Projektarbeit will damit einen Beitrag zur Erforschung der 'culture historique' des Mittelalters leisten, indem sie sich auf den Aspekt zunehmender Verschriftlichung konzentriert und nach den damit zusammenhängenden Konsequenzen für die spätmittelalterliche Schriftkultur insgesamt fragt.
Der Schwerpunkt der Projektarbeit liegt auf der Erfassung und Beschreibung aller den Text überliefernden Handschriften. Auf der Grundlage kodikologischer Daten sind wichtige Erkenntnisse über die Struktur des Rezeptionsgefüges und die Gebrauchszusammenhänge, in denen die Flores temporum eingebettet waren, zu gewinnen.
Neben der Analyse der Chronik selbst, ihrer verschiedenen Textstufen und Fortsetzungen ist die Erfassung der mitüberlieferten Texte in den Sammelhandschriften von großer Bedeutung für die Erarbeitung einer Überlieferungsgeschichte. Zum einen ermöglicht das Auffinden von Übereinstimmungen in Aufbau und Inhalt von Sammelhandschriften Rückschlüsse auf die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Handschriften. Zum anderen gestattet ein Überblick über die verschiedenen Textsorten Erkenntnisse über die Benutzergruppen und -interessen. Die Kompendien entstanden meist nicht zufällig, sondern mit einer bestimmten Intention und zu einem bestimmten Zweck. Ein besonderes Augenmerk richtet sich auf den praktischen Umgang mit historiographischen Texten und ihr Zusammenwirken mit anderen Typen pragmatischen Schrifttums. Denn nicht allein aus den ausgeformten und prominenten Werken der Chronistik bezog der mittelalterliche Zeitgenosse sein Wissen über die Vergangenheit und seine Vorstellungen über seine historische und soziale Identität, sondern ebenso aus dem gesamten Ensemble von historiographischen Gebrauchsformen und verschiedenen Typen pragmatischen Schrifttums, das sich dem Benutzer historiographischer Überlieferung bot.
Erste Forschungsergebnisse wurden 1996 in den
Studien zur Überlieferung der Flores temporum
publiziert. Der
Band enthält eine Übersicht über die bekannten
Textzeugen, deren Zahl sich durch die Recherchen des Projekts
verdoppelt hat. Ferner bietet er die Aufschlüsselung der
komplizierten Textgenese und -geschichte der Chronik. Am
Schluß steht eine Studie zur Entstehung und
Überlieferung der bis 1313 reichenden zweiten
Textstufe und ihrer Fortsetzungen.