PETRA KOCH, Die Archivierung kommunaler Bücher in den ober- und mittelitalienischen Städten im 13. und frühen 14. Jahrhundert, in: Kommunales Schriftgut in Oberitalien. Formen, Funktionen, Überlieferung, hg. v. Hagen Keller und Thomas Behrmann (Münstersche Mittelalter-Schriften Bd. 68) München 1995, S. 19-69.
Die Maßnahmen, die die italienischen Kommunen zur Archivierung ihres Schriftgutes ergriffen, erlauben grundlegende Rückschlüsse auf dessen Stellenwert im Lebenszusammenhang der Städte. Angesichts der zunehmenden Urkundenproduktion und der steigenden Zahl der Register in den einzelnen Verwaltungsbereichen sah man sich bald veranlaßt, per Statut oder Ratsbeschluß in die gesamte Schriftgutsicherung einzugreifen, und entwickelte eigene Organisationsformen, um die Unterlagen für eine kontinuierliche Administration zu sammeln und geordnet bereitzuhalten. Bedingt durch die Heterogenität des zu archivierenden Materials, durch das Vorhandensein von Mehrfachexemplaren und durch die besondere Verwaltungsorganisation mit wechselnden Amtsträgern gab es im 13. und frühen 14. Jahrhundert nicht das eine Archiv der Kommune. Vielmehr versuchte man, der Überlieferung angemessene und den praktischen Erfordernissen genügende Aufbewahrungsorte zu finden. Da in Kirchen oder Sakristeien weiterhin, wie schon im Frühmittelalter, vor allem eine sichere Verwahrung gewährleistet war, gaben die Kommunen bis ins 14. Jahrhundert Urkunden oder Originale bzw. Abschriften von allgemeiner und längerfristig gültigen Büchern in kirchliche Obhut. Das kontinuierlich produzierte Gebrauchsschriftgut dürfte dagegen ursprünglich direkt dem jeweiligen Amtsnachfolger übergeben worden sein. Da jedoch die Registerführung immer differenzierter wurde und das Schriftgut für spätere Kontrollen, Nachfragen oder Beweiszwecke verfügbar sein mußte, war eine zentrale und der Benutzung zugängliche Form der Deponierung zu finden - eine Aufgabe, die die Kommunen auf zwei unterschiedliche Arten lösten: In vielen Städten wurde schon früh das Schatzamt als zentrale Koordinierungsinstanz zum Aktendepot, wo man die Register zusammen mit dem Schatz der Kommune und damit als ein Teil von ihm sammelte und aufbewahrte. In einem völlig neuen, vorbildlosen Lösungsansatz entstand seit der Mitte des 13. Jahrhunderts etwa gleichzeitig vielerorts jeweils eine eigene kommunale Institution zur kontinuierlichen Archivierung des Schriftgutes. Eine wesentliche Aufgabe der leitenden Amtsträger, die meist selbst Notare waren, bestand in der Anfertigung von Kopien; die übrigen Funktionsträger wurden regelmäßig zur vollständigen Abgabe ihrer Register verpflichtet und dabei kontrolliert, um Lücken in der Dokumentation zu vermeiden. Da die Einträge in den Registern bzw. die Kopien Beweiskraft besaßen, war die geordnete Aufbewahrung und Verfügbarkeit aller schriftlich fixierten Sachverhalte für die Kommunen von essentieller Bedeutung. Sie konnten in Prozessen gezielt auf die Verwaltungsregister zurückgreifen. Insbesondere boten jedoch die öffentlich zugänglichen 'Archive' jedem einzelnen Bürger die Möglichkeit, seine Rechte und Interessen gegenüber der Stadt oder anderen Bewohnern in Prozessen durchzusetzen. Nicht nur durch die neuen Registrierungstechniken, sondern vor allem durch die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entscheidend weiterentwickelte Archivierung des Gebrauchsschriftgutes suchten die Städte eine umfassende Rechtssicherheit zu schaffen. Die Register wurden mit Aufschriften und Signaturen als Findhilfen versehen und übersichtlich in Säcken, Truhen und vor allem in Schränken mit Fächerunterteilung aufbewahrt. Inventare ermöglichten einen gezielten Zugriff. Neben regestenartigen, meist aus politischen Anlässen angefertigten Urkundenverzeichnissen, 'Übergabeinventaren' und einfachen Auflistungen der Verwaltungsregister sind aus dem 13. und frühen 14. Jahrhundert z. B. in Bologna, Savona und Perugia Archivinventare in Form von Findbüchern überliefert. Demnach besaßen die 'Archive' eine den kommunalen Bedürfnissen entsprechende, chronologisch nach den Amtsperioden der Podestà bzw. der übrigen Funktionsträger gegliederte und damit auf einem 'Provenienzprinzip' basierende Ablageordnung. Daneben sind Ansätze zu thematischen Untergliederungen im Sinne eines 'Pertinenzprinzips' erkennbar. Die ober- und mittelitalienischen Kommunen richteten seit dem 13. Jahrhundert neben den Kirchen als Aufbewahrungsorte eigene, originär kommunale 'Archive' ein, die die Aufbewahrung, Ordnung und Nutzung ihres Schriftgutes gewährleisteten. Diese hochstehende Archivorganisation und die seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert häufig belegte bewußte Erstürmung der Archive in Konfliktsituationen mit dem Ziel, durch die Zerstörung der schriftlichen Überlieferung auch die materiellen Rechte des Gegners zu vernichten, lassen erkennen, welche Bedeutung das kommunale Schrift- und Archivwesen im öffentlichen Bewußtsein der Städte erlangt hatte.