Bisher hat die historische Forschung diesen Prozeß weder in seinem Ausmaß voll erfaßt noch hinsichtlich seiner Bedeutung für die weitere Entwicklung der europäischen Gesellschaft und Kultur ausreichend gewürdigt. Daß Max Weber in seinen Fragen, Forschungen und Deutungen zum europäischen Rationalismus hier einen der wichtigsten Faktoren übergangen hat, obwohl am Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn Untersuchungen über italienische Handelsgesellschaften des Spätmittelalters standen, wurde von Brian Stock zu Recht kritisch angemerkt; und vielleicht machen die Untersuchungen dieses Bandes noch deutlicher, wie folgenreich diese Lücke für das Gesamtbild sein dürfte. Das primäre Anliegen der folgenden Studien ist jedoch auf einer anderen Ebene angesiedelt: Sie wollen an ausgewählten Beispielen den Durchbruch einer neuen Form administrativer Schriftlichkeit in oberitalienischen Kommunen erhellen. Dazu werden nicht einfach Typen neuartigen Geschäftsschriftguts vorgestellt; es geht, wenngleich viel auch dazu mitgeteilt wird, nicht um die Diplomatik der behandelten Dokumente. Zur Frage steht vielmehr die Funktion des Schriftguts im Kontext des Handelns. Mit anderen Worten: Intensiver als nach der formalen Entwicklung einzelner Schriftguttypen wird hier gefragt nach den Prozeduren und Verfahrensweisen, für die man die Schriftform gefordert hat, nach der Organisation, der das Schriftwerk dienen sollte, nach den Kulturtechniken, die hier - oft erstmals in der europäischen Geschichte - zur Anwendung kamen. Der qualitativ neuartige Gebrauch der Schrift soll auf Zielsetzungen bezogen werden, aus denen heraus die spezifischen Formen eine historische Erklärung finden. Rekonstruiert man die funktionalen Zusammenhänge, in die das erhaltene bzw. aus Erwähnungen erschließbare Schriftgut einst gehörte, wird das Ausmaß der Verluste erst wirklich sichtbar; erst dann zeigt sich, wie radikal die Hinwendung zum allgemeinen Schriftgebrauch in der kommunalen Administration damals gewesen ist und wie tief sie eingegriffen hat in die Lebensformen der Gesellschaft, ja in das Leben des einzelnen Menschen.
Daß dieser Prozeß der Verschriftlichung untrennbar verbunden war mit neuen Konzeptionen des Verwaltungshandelns und daß diese wiederum einem Willen zu dauerhafter Organisation und zentraler Kontrolle des Zusammenlebens in der Gemeinschaft entspringen, wurde bislang vor allem im Hinblick auf zwei "Institutionen" herausgearbeitet: auf die päpstliche Kurie und auf den englischen Königshof. Es waren große, für diese Zeit ohne Vergleich dastehende Überlieferungskomplexe, die das Interesse der Forschung schon früh auf sich zogen: für die Kurie die mit Innozenz III. (1198 - 1216) einsetzenden großen Registerserien, dazu neuartige Dokumente aus der päpstlichen Finanzverwaltung und Gerichtsbarkeit; für das englische Königtum vor allem die Pipe Rolls und die einmalige Erläuterung des königlichen Finanzwesens im 'Dialogus de Scaccario' Richards von Ely. Vergleichbare Überlieferungskomplexe sind in den italienischen Kommunen für diese frühe Zeit kaum vorhanden; wo derartiges Material erhalten geblieben ist, setzen Serien erst nach der Mitte des 13. Jahrhunderts ein. Die Bestände erreichen dann aber - wie vor allem in Bologna, aber etwa auch in Perugia, Modena und anderswo, und hinsichtlich der Notariatsregister sogar vielerorts - einen Umfang, der ihre Auswertung als kaum zu bewältigende Aufgabe erscheinen läßt, zumal im Vergleich zu Kurie und Königshof eine einzelne italienische Kommune eher eine "partikulare" Größe darstellt, deren Erforschung verständlicher-, aber vielleicht fälschlicherweise nicht als nationale oder gar internationale, mit großen Mitteln anzugehende Aufgabe betrachtet wird. So gehört die systematische Erschließung einzelner Archivfonds oder Quellenbestände oder gar deren Edition auch nicht zu den Aufgaben des Forschungsvorhabens, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Arbeit des Sonderforschungsbereichs 231 "Träger, Felder, Formen pragmatischer Schriftlichkeit im Mittelalter" gefördert wird. Vielmehr soll das Teilprojekt A "Der Verschriftlichungsprozeß und seine Träger in Oberitalien (11. - 13. Jahrhundert)", in dem diese Untersuchungen entstanden sind, einen für das Erkenntnisinteresse des Sonderforschungsbereichs unverzichtbaren Sektor erhellen. Es muß versuchen, am Beispiel der oberitalienischen Kommunen Aspekte des Wandlungsprozesses zu erfassen, dessen Erforschung auch die anderen Teilprojekte des Sonderforschungsbereichs gewidmet sind, wie z. B. Untersuchungen über "Die mittelalterliche Ars dictandi als Lehre pragmatischer und literarischer Schriftlichkeit" oder über "Schriftlichkeit und Ordensorganisation vom 12. bis zum beginnenden 14. Jahrhundert", über Schriftkultur und Geschichtsüberlieferung, über die deutschen Rechtsbücher, die Enzyklopädien, die klösterlichen Consuetudines und andere der Lebenspraxis dienende Gattungen, über Schulen, Höfe, religiöse Gruppen und eben, wie hier, die Stadtkommunen als Kommunikationsräume, in denen pragmatische Schriftlichkeit eine wachsende Bedeutung erhielt.
Die Hinweise auf den Umfang und die Vielfalt administrativen Schriftgebrauchs im frühen 13. Jahrhundert, die sich schon bei unseren ersten Studien ergaben, machten eines ganz rasch deutlich: eine Annäherung an das Phänomen, die vor allem vorhandene Bestände aufarbeitete, wäre unzureichend. Wenn man sich in seinen Fragestellungen von den Überlieferungszufällen abhängig macht und dazu noch die ganz unterschiedlichen Überlieferungsbedingungen an der Kurie, am englischen Königshof, in den einzelnen Kommunen nicht reflektiert, tritt der gesellschaftliche, politische und kulturelle Kontext nicht ins Blickfeld, der alle diese Entwicklungen als Ausdruck einer allgemeinen, europaweit erkennbaren Tendenz erscheinen läßt. An der Kurie, in den Kommunen, in den religiösen Orden, an einzelnen Königs- und Fürstenhöfen vollziehen sich mehr oder weniger gleichzeitig Wandlungsprozesse ganz ähnlicher Art - und führen oft zu verwandten oder sogar identischen "Problemlösungen". In ihrer Zusammengehörigkeit sind die Formen nur erkennbar, wenn man nicht allein von dem heute noch materiell Vorhandenen ausgeht, sondern in dieser sehr fragmentarischen Überlieferung - nicht zuletzt durch die Rekonstruktion der ursprünglichen Verwaltungs- und Lebenszusammenhänge - auch das zu ermitteln versucht, was einst vorhanden war und heute weitgehend verloren ist. Nur dann wird beispielsweise deutlich, daß kommunale Registerserien seit der Zeit Papst Innozenz' III. vorausgesetzt werden dürfen, mit dessen Registern die serielle Überlieferung im Vatikanischen Archiv einsetzt. Die Frage nach Überlieferungsverlusten, nach dem Charakter verlorenen Schriftguts oder nach den Gründen für die Tradierung des noch erhaltenen erweist sich oft als Schlüssel auch zum Verständnis der Form und Funktion dessen, was wir noch in Händen haben. Aus der Funktion lassen sich umgekehrt vielfach auch die Überlieferungschancen bestimmter Schriftguttypen erklären.
In diesem Sinne verstehen sich die folgenden Untersuchungen als ein spezieller, vom Beispiel oberitalienischer Kommunen ausgehender Beitrag zu einem allgemeinen Problem. Am englischen Beispiel hat Michael T. Clanchy wichtige Aspekte des Prozesses hervorgehoben, die trotz der andersartigen Verhältnisse weiterführende Vergleiche ermöglichen. Zunächst aber wollen die Studien einen - trotz der grundlegenden Arbeiten von Pietro Torelli - zu wenig beachteten Komplex aus der Geschichte der italienischen Kommunen erschließen. In der betrachteten Zeit versuchten diese, ihre innere Ordnung über die schriftlich fixierte Definition von Ämtern, Amtspflichten und Amtsbefugnissen zu gestalten. Sie wollten ihren Bürgern einerseits durch die Verschriftlichung der Administration ein höheres Maß an Rechtssicherheit bieten, zugleich aber durch Überprüfbarkeit des Verwaltungshandelns jede Möglichkeit des Amtsmißbrauchs und der Amtswillkür beschneiden und umgekehrt dem Amtsträger eine überpersönliche Autorität verleihen. Wie man rasch erkannte, boten dieselben Techniken sich aber auch an zur Akkumulation von Handlungswissen, zur Speicherung und Verarbeitung von Informationen, die der kommunalen Führung zweckentsprechende, kalkulierte, projektive Entscheidungen ermöglichten - was wiederum zur Ausbildung neuer Formen des Schriftgebrauchs führte.
Der hier vorgelegte Band spart einen Bereich weitgehend aus: den der kommunalen Rechtssetzung. Oder anders gesagt: er spart einen Typus aus, nämlich das Statutenbuch. Statutencodices des 13. Jahrhunderts aus Como, Lodi, Novara, Pavia und Voghera sind in Band 64 dieser Reihe vor kurzem von mehreren Autoren unserer Arbeitsgruppe behandelt worden; Untersuchungen über die Statutensammlungen von Bergamo, Vercelli und Verona erscheinen jeweils als eigene Monographien. Die folgenden Untersuchungen knüpfen unmittelbar an diese Arbeiten an und konnten ihre Ergebnisse als gesicherte Grundlage benutzen. Sie setzen aber mit ihrer Problemstellung neue, eigene Akzente. Dem Historiker, der sich mit den administrativen Strukturen in den Kommunen des 12./13. Jahrhunderts befaßt, dürfte das hier Vorgelegte wohl noch direkter auf seine Fragen Antwort geben - und ihm in manchem ungewohnte oder unbekannte "Ansichten" seines Gegenstandes vermitteln.
Die Studien sind herausgewachsen aus der gemeinsamen Forschungsarbeit: aus der Diskussion um Grundfragen, die das Thema stellt, und um Einzelprobleme, die sich aus der konkreten Arbeit ergaben. Die Autorinnen und Autoren haben ihre Beiträge zum Gesamtthema selbst vorgeschlagen und auch die Durchführung aufgrund ihrer Kenntnisse und Erfahrungen selbst konzipiert. Daß diese Freiheit nicht nur der Breite des thematischen Spektrums und der Vielfalt der Aspekte zugute gekommen ist, sondern auch der Durchdringung im Hinblick auf Grundfragen, mag, wie Autoren und Herausgeber hoffen, das vorgelegte Ergebnis zeigen. Welchen Anteil Thomas Behrmann am Zustandekommen und an der endgültigen Gestalt des Bandes hat, macht seine Einleitung wohl hinreichend deutlich, in der er die Einzelbeiträge in die Zielsetzung der gemeinsamen Arbeit einordnet. Michael Drewniok hat die Autoren bei Problemen in der Datenverarbeitung beraten und wertvolle Hilfe bei der technischen Koordination geleistet; Juliane Trede unterstützte sie bei der Erstellung des Registers. Allen Mitwirkenden gilt Dank für die hervorragende Zusammenarbeit.
Wie schon im Vorgängerband sei auch hier die freundliche Aufnahme und hilfreiche Unterstützung hervorgehoben, welche den Mitarbeitern des Forschungsprojekts und insbesondere den Autoren in Italien von seiten vieler Institutionen und Menschen zuteil geworden ist; sie wird am jeweiligen Ort gesondert vermerkt. Im Sonderforschungsbereich 231, im Historischen Seminar und in der Bibliothek der Universität Münster haben hier nicht genannte Helferinnen und Helfer zum Erfolg der Arbeit beigetragen. Für die Diskussionen, die uns geholfen haben, die Forschungen in der Arbeitsgruppe konzeptionell zusammenzuhalten oder zusammenzuführen, bot das Landheim Rothenberge der Universität Münster mehrfach einen angenehmen und sehr förderlichen Rahmen außerhalb der stets überfüllten Räume am täglichen Arbeitsplatz. Das Rektorat der Westfälischen Wilhelms-Universität hat trotz sehr begrenzter Ressourcen die Arbeit im Sonderforschungsbereich unterstützt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft, deren Förderung unsere Untersuchungen erst möglich macht, hat auch die Veröffentlichung des Bandes durch einen Druckkostenzuschuß ermöglicht. Herausgeber und Autoren wissen sich gegenüber den genannten Institutionen und ungenannten Personen zu Dank verpflichtet.