THOMAS BEHRMANN, Einleitung: Ein neuer Zugang zum Schriftgut der oberitalienischen Kommunen, in: Kommunales Schriftgut in Oberitalien. Formen, Funktionen, Überlieferung, hg. v. Hagen Keller und Thomas Behrmann (Münstersche Mittelalter-Schriften Bd. 68) München 1995, S. 1-18.




Für die Untersuchung des Verschriftlichungsprozesses im mittelalterlichen Europa bietet das Schriftgut, das die italienischen Kommunen im Zuge der Ausformung ihrer Herrschaft und der Differenzierung ihrer Administration während des 12. und besonders 13. Jahrhunderts produzierten, einen besonders günstigen Ansatzpunkt. Es spiegelt nicht nur eine frühe Stufe, sondern vereint auch eine Vielzahl von Formen und Inhalten pragmatischen Schriftgebrauchs. Die Beiträge dieses Bandes versuchen, in Ergänzung zu den bisherigen Forschungen über das Notariat und die kommunale Diplomatik die Entwicklung und das Zusammenspiel schriftlicher Techniken in den Vordergrund zu stellen und als Ausdruck eines neuen Bewußtseins für die Möglichkeiten der Schrift zu werten. Dies geschieht an signifikanten Beispielen aus dem Raume Mailands und seiner Nachbarkommunen, wobei die heterogene und wenig erschlossene Überlieferung ein weitgespanntes Blickfeld erfordert.

Als wichtigster formaler Faktor für das stürmische Anwachsen der kommunalen Schriftlichkeit zeichnet sich die seit dem späten 12. Jahrhundert in steigendem Umfang belegte Einführung des Buches in die Rechts- und Verwaltungspraxis der Kommunen ab. Genutzt als Instrument der systematischen Erfassung, Archivierung und Bearbeitung von Informationen, dienten Bücher so unterschiedlichen Zwecken wie der Registrierung von Urkunden, Briefen oder Gerichtsakten, der Fixierung eines Kataloges von gemeinverbindlichen Rechtsnormen, dem ordnungsgemäßen Ablauf von Wahlverfahren oder einer effizienten Steuererhebung.

Starke Impulse erhielt der Verschriftlichungsprozeß durch die innen- wie außenpolitisch aufbrechenden Konflikte, die zum einen direkt in schriftlich fixierte Lösungsmodelle münden konnten, zum anderen aber auch das Bewußtsein für präventive schriftliche Rechtssicherung in einer zunehmend an verschriftlichten Rechtsnormen ausgerichteten Gesellschaft schärften. Hinzu trat das für die Verfassung der italienischen Kommunen spezifische und immer mehr ausgeweitete Prinzip der Ämterrotation. Sowohl der ihm zugrunde liegende Gedanke öffentlicher Kontrolle der politischen Gewalt als auch die Notwendigkeit einer transpersonalen Amtskontinuität haben neues administratives Schriftgut hervorgebracht.

Charakteristisch für den Umgang der Kommunen mit der Schrift ist ferner die Tatsache, daß sie nicht nur zur (einfachen) Dokumentation, sondern in starkem Maße auch für Reproduktionszwecke genutzt wurde. Dabei erscheint das Kopieren von Büchern und Einzelschriftstücken - wie mitunter auch die schriftliche Fixierung selbst - nicht immer plausibel begründet. Dies vermag jedoch die durch den Schrifteinsatz ermöglichte durchdringende Rationalität der kommunalen Herrschafsorganisation nicht zu überdecken: In der Sammlung, Ordnung und Nutzung von Informationen 'berechnend', in der Verarbeitung von Daten 'rechenhaft', in der Wahrung schriftgebundener Rechtsprinzipien 'berechenbar', hat die Administration der Kommunen über den Horizont der Stadt hinaus innovative Leistungen hervorgebracht.