Solidaritätserklärung mit den Bewohner_inner der Grawertstraße 34

Vom 25. März bis zum 14. April 2011 besetzte eine Gruppe Münsteraner_innen gemeinschaftlich die Grawertstraße 34 im Nordosten der Stadt. Sie wollen sozialen Wohnraum schaffen und der bis dato leer stehenden Häuserzeile eine Zukunftsperspektive geben: Kreativ, offen gestaltet und für alle zugänglich. Das Projekt ist eine Reaktion auf die Wohnungsknappheit, die sich im vergangenen Herbst mit der Schließung von Studierendenwohnheimen erneut verschärft hat, als hunderte Studierende für Wochen in Turnhallen, Zelten und bei Freund_innen unterkommen mussten oder gar ihr Studium nicht antreten konnten. Neben Studierenden belastet die Wohnungsknappheit auch andere Menschen, wie Geringverdiener_innen, Flüchtlinge und Asylsuchende – das Problem hat deshalb breitere gesellschaftliche Relevanz.

Die Bewohnung der Grawertstraße wurde von vielen Seiten sehr positiv aufgenommen – es gab politische Zustimmung, Solidaritätsbekundungen und Freude bei Nachbar_innen. Doch die Staatsgewalt hat dem friedlichen Projekt ein Ende gesetzt und das Haus vergangene Woche geräumt.

Die Fachschaft Kultur- und Sozialanthropologie der Uni Münster erklärt sich solidarisch mit den Bewohner_innen der Grawertstraße 34!

Die Wohnsituation von Menschen mit niedrigen Einkommen ist in Münster denkbar schlecht. Die Nachfrage nach freiem Wohnraum besonders in unteren Preiskategorien ist in den vergangenen Jahren konstant gestiegen. Im letzten Herbst brach schließlich der Damm: Der Schwung neuer Student_innen, die zum Wintersemester mit ihrer Ausbildung beginnen wollten, überlastete die ohnehin angespannte Situation am Wohnungsmarkt derart, dass viele wochenlang keine Wohnung finden und in Notunterkünften untergebracht werden mussten. Gleichzeitig hält in vielen Wohnblöcken Münsters ein Trend an, der den sozialen Frieden innerhalb der Stadt nachhaltig erschüttern könnte: Der Zuzug höher Einkommensschichten aus allen Bevölkerungsgruppen verdrängt nach und nach Menschen, die auf günstigen Wohnraum in der Stadt angewiesen sind. Die Macht des Kapitals sorgt somit für eine Exklusivität von Zugangsmöglichkeiten, die gleichzeitig Festungen gesellschaftlicher Eliten wie die gated community „Klostergärten“ ermöglicht und die Verdrängung und den Ausschluss von Menschen, die den Verwertungslogiken einer maßlosen Gesellschaft nicht folgen können.

In den vergangenen Monaten ist in der bis dahin leer stehenden Häuserzeile der Grawertstraße ein Haus geöffnet und angeeignet worden, um Menschen Wohnraum zu schaffen, die von der kalten Logik „des Marktes“ ausgeschlossen worden sind.

Die Grawertstraße ist eine Häuserzeile mit insgesamt 40 Wohnungen verteilt auf ca. 20 Häuser, die bisher von einem halbstaatlichen Unternehmen, der „Bundesimmobilienaufsicht“ kurz BIMA, an die britische Armee vermietet wurde. Die Armee hat zumindest geplant, die Häuser für zurückgekehrte Soldat_innen aus den Kriegsgebieten Afghanistan oder Irak zu nutzen. Bis heute haben kaum je britische Stiefel einen Fuß in die leeren Wohnungen der Grawertstraße gesetzt, die kahl, verlassen und still da lagen, ohne irgendeiner Art von Nutzung zugeführt zu werden. Wie kann es sein, dass in einer Stadt, in der Menschen ohne Obdach leben müssen, weil sie nicht das nötige Kapital mitbringen, um sich in innenstadtnahe Festungslandschaften wie die „Klostergärten“ einzukaufen, eine ganze Häuserzeile leer und ungenutzt herumsteht?

Mit der Öffnung eines Hauses in der Grawertstraße sollte nicht nur ein Zeichen gegen die Verschwendungs-, Geltungs- und Wachstumssucht unserer Tage gesetzt werden, in der nur diejenigen sich behaupten können, die ihre Mitmenschen gnadenlos ausbeuten. Vielmehr sollte das Haus endlich genutzt werden, sollte die Straße wieder mit Leben und Freude erfüllt sein. Welchen Sinn würde es machen, die Häuser weiter leer stehen zu lassen? Wem könnte die Öffnung – nicht Inbesitznahme – eines der Häuser schaden? Sicherlich nicht der britischen Armee, die einige Tage nach der Öffnung den Vertrag mit der BIMA aufkündigte und überrascht feststellte, was für einen Bärendienst ihnen diese „Investition“, die niemals genutzt wurde, erwiesen hatte. Sicherlich auch nicht den Anwohner_innen, die bei wöchentlich von den neuen Bewohner_innen ausgerichteten „Nachmittagskaffees“ vorbeikamen und sich mit leckerem Kaffee, Tee und Kuchen stärkten – es gab am letzten Sonntag sogar ein Ponyreiten für die Kinder aus der Nachbarschaft. Auch aufgrund ihres umfangreichen, bunten, lebendigen Programms bekamen die neuen Bewohner_innen der Grawertstraße durchweg positive Rückmeldungen der Nachbarschaft. Fast jeden Abend fanden Diskussionsrunden, Filmvorführungen, Vorträge und Essen statt, an denen jeder und jede teilhaben konnte und zu denen stets viele kamen.

Leider ist dieses Projekt, das vielleicht die erste sinnhafte Nutzung der Grawertstraße und ein Stachel innerhalb kapitalistischer Verwertungslogiken und Marktförmigkeiten ist, am Donnerstag, dem 14. April 2011 um 9.00 Uhr von der Polizei geräumt worden. Die drei Bewohner_innen, die sich zu diesem Zeitpunkt im Haus aufhielten, wurden festgenommen und sind inzwischen wieder auf „freien Fuß“ gesetzt. Die Zukunftskonzepte, die die Bewohner_innen des Hauses im Rahmen von Verhandlungen mit der BIMA am 8. April vorbringen wollten, wurden von den Verantwortlichen der BIMA nicht einmal angehört oder angesehen. Die Verhandlungsbemühungen waren offenbar sehr einseitig. Es ist schrecklich, wie die Stimmen von Menschen in den Ohren anderer ungehört verhallen, wie Polizeifahrzeuge und eine große Zahl Polizisten in Rüstungen gegen gemeinschaftliche Bemühungen und Ideen mit unverhältnismäßiger struktureller Gewalt angehen und zersetzen, was in mühsamer, kostbarer Kleinstarbeit von Vielen in Stunden, Tagen, Wochen entstanden ist.

Nietzsche mag Recht haben, wenn er schreibt, dass es nicht die Einmaligkeit eines Momentes ist, der unsere Welt erschafft, sondern die Wiederholung. Und so wie sich Zerstörungen, Plünderungen und Brandschatzungen in den Archiven häufen, so wurde auch dieses faszinierende Projekt mit dem Wimpernzucken eines Augenblicks, der sich unendlich wiederholt, hinfort getreten.

Es ist traurig und erzürnend, dass ein sogenannter „demokratischer“ Staat wie die Bundesrepublik Deutschland ein Unternehmen wie die BIMA installieren musste, das keine Gnade vor kalter Effizienz kennt. Und es ist ebenso enttäuschend, dass die gewählten Vertreter_innen unsereiner in Berlin, noch die in Münster, die so oft positive Rückmeldungen gaben, letztendlich uninteressiert blieben für die Belange nicht nur der Bewohner_innen der Grawertstraße, sondern all jener, die von dem „breiten Fundaments des wirtschaftlichen Aufschwungs“ (Brüderle) überrollt wurden und noch werden.

 

Wer mehr über die Zukunft der Grawertstraße erfahren möchte, wird hier http://grawertstrasse.blogsport.de/ fündig.

 

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