‚Zur Dynamik von De-Institutionalisierung und Re-Institutionalisierung religiöser Praxis. Katholische Frömmigkeitskulturen und Sozialformen im Spannungsfeld von Institution und Charisma‘
Gefördert vom Exzellenzcluster ‚Religion und Politik‘ (Link zum Projekt B3-35), 2019-2025.
Projektleitung: Frau Prof. Dr. Astrid Reuter
Seit den 1960er Jahren hat sich, angestoßen vor allem durch die Erosion ‚volkskirchlicher‘ Strukturen in Westeuropa, die Aufmerksamkeit der gegenwartbezogenen Religionsforschung zunehmend auf Prozesse der Individualisierung und Pluralisierung des Religiösen außerhalb der christlichen Kirchen verschoben. Zwar wurden politische Bewegungen, die sich seit den 1970er Jahren in den Kirchen bildeten (Friedens- und ‚Dritte-Welt‘-Bewegung, Umweltbewegung), in den Blick genommen. Die tiefgreifenden Veränderungen in der kirchlichen Frömmigkeitskultur jedoch, die sich zeitgleich vollzogen, sowie der (mit diesen neuen Frömmigkeitsstilen Hand in Hand gehende) Wandel kirchlich gebundener Sozialformen gerieten hingegen ins Abseits religionswissenschaftlicher Aufmerksamkeit.
Dies gilt insbesondere für die Entwicklungen in der katholischen Kirche. Denn der von den USA ausgehende globale (Europa allerdings weitgehend aussparende) Erfolg des evangelischen Pentekostalismus wurde in der Religionsforschung durchaus aufmerksam verfolgt; dabei fanden der pentekostale Frömmigkeits- und Gottesdienststil sowie der missionarische Enthusiasmus viel Beachtung. Die katholische Kirche hingegen galt (zunächst durchaus zutreffend) lange ausschließlich als Verliererin des pentekostalen ‚Booms‘; dass sie (zeitversetzt) auch integraler Teil dieser Bewegung wurde, wird in der Religionsforschung erst allmählich registriert. Hier setzt das Projekt an.
Die Anfänge dieser gleichsam nachholenden ‚Pentekostalisierung‘ des Katholizismus (Brenda Carranza), die ihren Schwerpunkt im globalen Süden hat (mit Lateinamerika als einer ihrer Kernregionen und Brasilien als einem der Kernländer), liegen in den 1960er Jahren, schließen aber an geistliche Aufbrüche im (europäischen) Katholizismus des frühen 20. Jahrhunderts an. In den 1980er Jahren nahmen sie an Fahrt auf und sind heute etwa in Brasilien auf dem Weg, zur dominanten Strömung innerhalb der (allerdings insgesamt seit den 1970er Jahren schrumpfenden) katholischen Kirche zu werden. Mit den evangelischen Pfingstkirchen teilen die katholischen charismatischen Bewegungen wesentliche Züge ihres Frömmigkeitsstils und der sozialen Formen, die diesen tragen. So zeichnen sich beide durch enthusiastische Gebets- und Gottesdienstformen und ihre Fokussierung auf Geistheilung, ihre souveräne Adaption popkultureller (insbes. popmusikalischer) Entwicklungen, Offenheit gegenüber sozialen Medien und eine versierte Aneignung moderner Kommunikationstechnologien (eigene Radio- und TV-Kanäle) aus; ebenso verbinden beide religiöse Großevents (Mega-Gottesdienste in stadienähnlichen Kirchen, Campmeetings, religiöse Popkonzerte) mit einer höchst beweglichen, weil netzwerkartigen Sozialstruktur, basierend auf lokalen Gebetsgruppen und Hauskreisen. Die katholischen charismatischen Bewegungen haben (mit Blick auf Frömmigkeitskultur und Sozialförmigkeit) vielfältige Anleihen bei den evangelischen Pfingstkirchen gemacht. Zugleich setzen sie aber auch eigene Frömmigkeitsakzente, in Brasilien etwa durch die prominente Integration inniger Marienfrömmigkeit, die Betonung der priesterlichen eucharistischen Feier und ihre Papstreue. Letztere verweist auf ein grundlegendes wichtiges Merkmal der katholischen charismatischen Bewegungen: Sie verlassen die ‚erodierende Gnadenanstalt‘ (Michael N. Ebertz) nicht, sondern dynamisieren durch ihre ‚geistbewegte‘ Frömmigkeitskultur den amtskirchlichen Bürokratismus und seine Mechanismen der Herstellung von Autorität von innen.
Für die Religionsforschung interessant sind die charismatischen Bewegungen in der katholischen Kirche u.a. deshalb, weil sie zeigen, dass Prozesse der De-Institutionalisierung – verstanden einerseits (organisationssoziologisch) als Entkirchlichung, andererseits (neo-institutionalistisch) als Erosion kirchlich vermittelter und binnenkirchlich geteilter Erwartungsstrukturen und Verhaltensstandards – verschränkt waren und sind mit Prozessen der Re-Institutionalisierung, d.h. mit dem Aufbau neuer Frömmigkeits- und ihnen entsprechender Lebens- und Sozialformen des Katholischen (jenseits der Troeltschen Trias von Kirche/Sekte/Mystik bzw. unter Verbindung von Elementen aus diesen dreien) innerhalb der Kirche, aber neben den etablierten kirchlichen Organisationseinheiten (Gemeinden, Diözesen/Landeskirchen, Orden, Klöster).
Diese Dynamiken sollen in dem Projekt am Beispiel katholischer charismatischer Bewegungen in Brasilien (etwa Toca de Assis, Obra de Maria, Canção Nova oder Shalom), einem der Schwerpunktländer der charismatischen Erneuerung in der katholischen Kirche, und/oder einem europäischen Land (etwa Deutschland, Frankreich oder Italien) untersucht werden. Der Fokus soll dabei auf der Innovation der Frömmigkeitskultur und der dieser Frömmigkeitskultur entsprechenden neuartigen Sozialformen liegen. Die Untersuchung hat zwei Ebenen einzubeziehen: So sind einerseits die Entwicklungsdynamiken und Konkurrenzbeziehungen im jeweiligen ‚katholischen Feld‘ selbst zu untersuchen; andererseits sind diese in Beziehung zu setzen zu den Entwicklungsdynamiken und Konkurrenzen im jeweils umgebenden größeren ‚religiösen Feld‘, dies unter Einbezug nicht nur anderer christlicher Frömmigkeitsoptionen (Mainline-Protestantismus, Pentekostalismus etc.), sondern auch unter Einbezug nicht-christlicher Religionen (in Brasilien v.a. afrobrasilianische Religionen und Spiritismus, in Deutschland und Frankreich v.a. Islam).