Biblischer Spurenleser

Gedenkgottesdienst für Prof. Dr. Erich Zenger: Jes 43, 1-3 + Joh 1, 1-5. 9-14

I
Erich Zenger ist tot. Am Morgen des Ostertages ging sein Leben zu Ende. Wir waren und sind tief betroffen, seine engen Freunde erschüttert. So unerwartet aus dem Leben gerissen! Natürlich weiß jede und jeder, dass das entscheidend Charakteristische unseres Daseins seine Vergänglichkeit ist, wie Kafka bündig schrieb. Trotzdem wollen wir bleiben. Aber es hilft nichts: Wir müssen gehen.
„Es sey gleich morgen oder heut
Sterben müssen alle Leut.
Ich hab gesehen, dass der Todt ein Fischer [ist], der nicht allein kleine Schneiderfischel ziehet, sondern auch große Wahlfisch; ich hab gesehen, dass der Todt ein Mader [ist], der mit seiner Sensen nicht allein abschneidet die niedrige Klee, sondern auch das hochwachsende Graß […] Ich hab gesehen, dass es muß gestorben seyn, und unser Alles nichts seye.“
Abraham a Santa Clara schrieb das. Zur Gänze wohl versteht man das erst, wenn einem jemand von der Seite gerissen ist, mit dem man noch wenige Tage zuvor plaudernd auf den Stufen des Fakultätsgebäudes stand.

II
Der ehrenden Nachrufe auf Erich Zenger waren viele – und zu Recht. Sie galten dem Forscher, dem großen Exegeten und Meister der Psalmenauslegung, dem inspirierenden Lehrer und Wissenschaftspolitiker, besonders dem unermüdlichen, sensiblen Avantgardisten des jüdisch-christlichen Dialogs, der Generationen von Studierenden nahe brachte, dass die Juden bis heute in einem ungekündigten Gottesbund stehen und das Alte Testament ein Überschuss von Gottesversprechen prägt, der eben gerade nicht in dem christlich so bequemen Schema von Verheißung und Erfüllung aufgeht. Und keineswegs zuletzt sagte man dem Verstorbenen Dank für sein unermüdliches Bemühen, das Wort der Schrift auf sprachliche gelungene Weise ins Geschehen der Liturgie einzuschreiben und seine Schönheit, seinen Segen, seinen Trost breiten Schichten des Volkes Gottes in leicht verständlichen Auslegungen nahe zu bringen.

III
Ebendieses Aufschließen der Schrift war auch der Zusammenhang, in dem mir schon in den letzten Schuljahren Anfang der 1970er Jahre als Leser von „Christ in der Gegenwart“ der Name Erich Zenger vertraut wurde. Nichts hätte mich ahnen lassen können, dreieinhalb Jahrzehnte später einer seiner Kollegen zu werden. Da wurde dann auch immer wieder über Theologisches gesprochen, zumal das Verhältnis zwischen Exegese und Philosophie oder Systematischer Theologie, aber das Alltagsgeschäft, die auswärtigen Pflichten ließen dafür wenig Zeit. Viel zu wenig: Das ging mir mehr als je sonst bei der Abschiedsvorlesung von Kollegen Zenger am 14. Juli 2004 auf. Er hatte sie überschrieben mit „’Gott hat keiner jemals geschaut’ (Joh 1,1-18) – Die christliche Gottesrede im Angesicht des Judentums“. Denn hinter dem Rückblick auf seine insgesamt 34 Jahre als Assistent und Ordinarius an unserer Fakultät und jenseits manch dankbarer Erinnerung und auch ein paar ironischer Seitenhiebe an die Adresse von Kollegen blitzte da etwas auf von dem, was Erich Zenger in der Herzmitte seiner Auslegungsarbeit am tiefsten beschäftigte und was auch nach Jahrzehnte langem Fragen und Forschen nicht abgeschlossen war: die Frage nämlich, wie die jüdische und die christliche Lesart der Schrift sich zu einander verhielten, ob bei aller Differenz eine perspektivische Gemeinschaft bestehe, „die der biblische Text vorgibt und um die beide sich mühen müssen.“  Und ausdrücklich sagte Erich Zenger hinzu, dass das für nicht allein eine exegetische, sondern zugleich auch eine systematisch-theologische Frage im strengen Sinn war: die Frage, so wörtlich, „wie denn der Sohn [als den Christinnen und Christen Jesus von Nazareth bekennen] am Geheimnis des einzigen Gottes teilnimmt.“

IV
Dem ist Erich Zenger dann in der Auslegung einiger Züge des Johannesprologs nachgegangen (daher auch das heutige Evangelium): Zuerst erinnert er daran, dass da im berühmten Vers 1,14 – kai ho logos sarx egeneto – eben nicht einfach steht: der Logos ist Mensch geworden, sondern: er ist Fleisch geworden: „Fleisch meint in biblischer Sprache den einzelnen Menschen in seiner Hinfälligkeit, Verletzbarkeit und Vergänglichkeit.“ Das ist das Medium, in dem sich der Logos, diese schöpferische Liebe von Anfang an, dieser alles einende und zusammenhaltende, alles durchlichtende und verständlich machende Ursprung sichtbar macht. In diesem Fleisch schauen wir das Wunderbare des Wunderbarsten an Gott. Die Botschaft ergeht nicht in „Schreckensglanz“, sondern die Botschaft ist das Fleisch – das Fleisch ist Selbstbekundung Gottes. Und dann zeichnet Zenger nach, wie sich diese Gotteskunde aus dem Johannesprolog einzig auf dem Hintergrund einiger zentraler Kapitel aus dem Buch Exodus, namentlich Kap. 29 und Kap. 33-34 angemessen verstehen lässt.

Im Zusammenhang mit dem Krisenszenario um das goldene Kalb, als Mose im Grunde nicht mehr weiter weiß und nicht mehr sicher ist, dass Gott bei diesem störrischen Haufen überhaupt weiter bleiben wird, da wagt er diesen seinen Gott zu bitten: „Lass mich doch deine Herrlichkeit schauen!“ (Ex 33, 18). Und die Bitte wird ihm gewährt, aber indirekt, weil das direkte Schauen dieser Herrlichkeit, also des Wesens Gottes, für den Menschen unmöglich ist. Darum antwortet Gott dem Mose: „Ich will vorübergehen lassen vor deinem Angesicht all meine Schönheit und ich will ausrufen vor dir meinen Namen […] Du wirst meinen Rücken/mein Nachher schauen, aber mein Angesicht kann niemand schauen“ (Ex 3, 19.23). Und Mose, so heißt es weiter, tritt auf Gottes Geheiß in eine Felsspalte, Gottes Hand selbst schützt ihn vor dem Anblick des Überglanzes – und er darf Gott hinterher schauen „und ihn im Vorübergang […] hören.“

Im Vorübergang. Gott ist ein Passagegott. Nur im Vorübergehen gewahren wir ihn. Niemand verfügt über sein Kommen, niemand über sein Gehen. Keiner vermag seine Präsenz zu sistieren – fest-zu-stellen im buchstäblichen Sinn. Gott ist immer a posteriori. Wir können nur immer seine Fußspuren in Schöpfung und Geschichte und in seinem auserwählten Israel entziffern – und an den „Furchen in den Seelen der Menschen“, wie der jüdische Exeget Joseph Hermann Hertz einmal sagte. Auch die Philosophen wussten das übrigens seit je, auch wenn sie es vielleicht prosaischer sagen: dass wir die Stimme und den An-Spruch des Unendlichen immer nur gebrochen im Echo unserer endlichen Vernunft vernehmen.

In eben diese Spurenlogik aus Exodus 33 stellt Erich Zenger den Johannesprolog: der fleischgewordene Logos, der – wie es wörtlich heißt – unter uns zeltete, also eine ganz fragile Wohnstatt aufschlug, er ist so etwas wie eine „’Wieder-Holung’ der durch Mose vermittelten Sinai-Erfahrung“, eine Wiederholung freilich, die zugleich darin neu ist, dass sie nun „in der Person des Mittlers selbst geschieht“ – in Anlehnung an Origenes’ Titulierung Jesu als autobasileia (Gottesreich in erster Person) könnte man von autodoxa sprechen, von persongewordener Herrlichkeit. Und in dieser Fleisch-Herrlichkeit ist Gottes Güte und Treue, die schon die Mitte der mosaischen Sinaioffenbarung war, „in so bislang nicht geschauter Gestalt präsent geworden.“

Zenger sagt es nicht hinzu, aber dieses Ineinanderlesen von Exodus 33 und Johannes 1 kann sich auf frappierende Väterzeugnisse stützen: Gregor von Nyssa etwa schreibt, hier werde Mose, der Gott zu sehen verlange, belehrt, wie allein dies möglich sei: Gott nachfolgen, wohin er auch führt – das ist: Gott sehen. Und klar natürlich, dass das Stichwort „nachfolgen“ einen christologischen Unterton einspielt: Hinter Gottes Rücken hergehen heißt: in Jesu Nachfolge eintreten und darin besteht das Sehen Gottes. Und Augustinus spricht es direkt aus, wenn er meint: Nicht unzutreffend pflegt man aus der Person unseres Herrn Jesus Christus als Vorausbild (praefiguratum) zu verstehen, dass sein Rücken für sein Fleisch genommen wird.

V
Der Schlusssatz des Prologs lautet: „Keiner hat Gott je geschaut…“, aber „dieser hat ihn ausgelegt“, „exegesato“ auf Griechisch. Also: Der Fleisch gewordene logos, Jesus, ist der Exeget des Vaters, an dessen Brust er ruht: Er ist autobiographische Auslegung des schöpferischen, barmherzigen, treuen Gottes, von dem die ganze Glaubesgeschichte Israels erzählt, Jesus als lebendige Metapher Gottes aus Fleisch und Blut, wie Eberhard Jüngel einmal formulierte und damit an das beinahe spielerische, in jedem Fall unverrechenbare, nicht machbare, sondern nur frei als Geschenk annehmbare Surplus erinnerte – den beglückenden Überschuss einer geglückten Auslegung.

Es war kein Zufall, dass Erich Zengers Prologexegese damals in der Abschiedsvorlesung genau auf dieses „exegesato“ zulief. Dieses Tun des Logos – Exeget, Ausleger Gottes zu sein – war ihm der Leitstern für das eigene Leben und Schaffen als Theologe, gewiss gebrochen im Maß des Endlichen und durch das, was wir auch in unserem Besten durch unsere Schwächen schuldig bleiben. Aber dennoch war es so etwas wie Teilhabe an der Christusform en miniature, also seine erstpersönliche Gestalt von Nachfolge. Die konnte gewiss nicht auf das Exegetisieren beschränkt sein, aber ohne dieses wäre Erich Zenger als Theologe und Christ nicht der gewesen, der er war.

Wir danken ihm für alles, was er uns als Gotteskünder schenkte. Wir danken Gott, dass wir ihn hatten. Er möge ihm das Gute lohnen, das Verfehlte vergeben und aus seiner Güte und Treue dazuschenken, was zum Vollendetsein noch fehlt.