Wer wir sind
3. So C: 1 Kor 12,12-14.27
I
Ein Rabbi öffnete morgens sein Fenster weit, sah hinaus, schloss resigniert die Fensterflügel und murmelte: Noch nicht. Jeden Morgen geschah das: Nach dem Aufstehen eilte er zum Fenster, riss es auf, schaute hoffnungsvoll nach draußen – und schloss es langsam, traurig murmelnd: Noch nicht. Einer seiner Schüler beobachtete ihn dabei über eine längere Zeit hinweg. Nach einigen Wochen fasste er sich ein Herz, den Rabbi zu fragen, warum er das tue. – Jeden Morgen, antwortete der Rabbi, hoffe ich, dass die Verheißung Gottes wahr geworden und dass der Messias gekommen ist, ich sehe das immer gleiche Treiben auf der Straße. Nichts hat sich verändert. Dann weiß ich: Der Messias ist nicht gekommen. Noch nicht.
II
Es gibt aber Menschen, die überzeugt sind, dass des Rabbi Hoffnung schon erfüllt ist. Das sind die Christinnen und Christen. Was Jesus sagte, wie er lebte, was er bewirkte, war zwar fast gänzlich anders als das, was man von einem Messias damals erwartete. Trotzdem überzeugte es Menschen davon, dass Gott in diesem Menschen einlöse, was ihnen versprochen ist.
Wer das glaubt, muss sich auf eine Frage gefasst machen, die der Rabbi gewiss gestellt hätte oder vielleicht gestellt hat, wenn er Christen begegnete. Die Frage heißt: Was hat sich denn verändert? Jeden Morgen sehe ich die Gesichter der Menschen, ich sehe das immer gleiche Treiben auf der Straße. Was soll denn anders geworden sein, seit dieser Jesus gekommen ist, den ihr Christus, also Messias nennt?
III
Darauf muss ich etwas antworten, was mir der eine oder die andere vielleicht mit Gelächter quittieren wird. Trotzdem muss ich es sagen. Dieses Andere, das Zeugnis geben soll dafür, dass mit Jesus der Messias gekommen, als die Welt zum Guten anders geworden ist, – dieses Andere ist: die Kirche. Wer ein bisschen verfolgt, was man öffentlich und in den Medien so über Kirche meint, der wird für verwegen halten, was ich eben sagte. Daran ist die Kirche selber schuld: Lehrdokumente in einer Sprache, die kein Mensch versteht. Prinzipienreiterei in moralischen Angelegenheiten, die unsensibel bleibt für die abertausend Ausnahmen und Grenzfälle, die es im gelebten Leben von Menschen gibt. Machtgerangel zwischen den Hierarchen, Personalskandale bis in höchste Kreise. Autoritäres Umspringen mit den eigenen Mitarbeitern, zumal, aber nicht nur mit den Laien. Die Aushebelung von Mitspracherechten der Gemeinden und Ortskirchen. Die Frauenfrage, der Umgang mit der eigenen politischen Vergangenheit. Ein Papst derzeit, trotz mancher Qualitäten, derart unpolitisch und noch dazu von so miserablen Beratern umzingelt, dass er kaum einen Fettnapf auslässt – die Liste ist noch nicht zu Ende. Alles Dinge, die dem widersprechen, wofür Kirche von ihrem Wesen her steht. Und trotzdem: Nicht einmal das kann auslöschen, was das innerste Wesen von Kirche ausmacht. Wenn ich davon nicht überzeugt wäre, könnte ich jetzt nicht hier stehen.
IV
Und was ist dieses innerste Wesen? Der Apostel Paulus sagte es in der Lesung vorhin auf eine Weise, die man sehr leicht überlesen kann, die aber zugleich höchst aufregend ist. Paulus schrieb einen Brief an die von ihm gegründete Gemeinde in Korinth. Er war in größter Sorge. Der Zusammenhalt war gefährdet. Paulus' Sorge hatte ihren Grund. Denn die Korinther waren, man muss es so hart sagen, das, was man in Bayern ein Sauhaufen nennt. Die Reichen nehmen keine Rücksicht auf die Armen, wenn Sie zur Feier des Sonntags zusammenkommen; die einen bestreiten den anderen das wirkliche Gläubigsein, wieder andere bilden sich auf ihre Fähigkeiten etwas ein und schauen auf die Glaubensgeschwister herab. Darum beschwört Paulus die Christen von Korinth, nie zu vergessen, dass die Vielheit der Geister, Kräfte und Begabungen in der Gemeinde aus der Hand des einen Herrn und Gottes kommen.
In diesem Zusammenhang fällt ein hochinteressanter Satz. Da schreibt Paulus: Denn wie der Leib eine Einheit ist, doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obgleich es viele sind, einen einzigen Leib bilden: so... – und jetzt würde man erwarten, dass er weiterfährt: So ist es auch mit der Gemeinde. Paulus aber sagt etwas ganz anderes. Er setzt den Satz fort mit: outos kai o Christos: Und so auch der Christus.
Das aber bedeutet: Die Gemeinde, die Kirche ist nach der Sicht des Apostels der Christus. Das ist stark. Er meint damit: Die christliche Gemeinde, wie sie ist, mit ihren Spannungen, Problemen, Fehlern und Versagern ist der Christus, den man sehen kann. Die Apostelgeschichte bestätigt im Übrigen diese Sicht, wenn sie davon erzählt, dass Paulus bei seiner Bekehrung vor Damaskus eine Stimme sagen hört: Saulus, Saulus, warum verfolgst du mich? Die Gemeinde, die Kirche als der Christus, den man sehen, den man berühren kann. Das heißt aber auch: Wenn etwas anders geworden ist, seit er kam, dann muss das an der Kirche ablesbar sein und durch sie zur Geltung kommen. An dem, was sie ist und was in ihr geschieht. Ganz oft bleibt die Kirche und bleiben die Kirchen das schuldig. Sonst hätte es keinen Rabbi wie in der Geschichte geben können, der über das Ausbleiben des Messias traurig ist.
Das andere, das es auch gibt, darf aber nicht unterschlagen werden: Gemeinden nehmen sich Gottes Wort zu Herzen. Sie rufen vor allem anderen die Umkehr zu dem Gott aus, den Jesus verkündet. Sie freuen sich darüber, dass man sich mit diesem Gott aussöhnen kann, wenn man etwas falsch und sich selbst schuldig gemacht hat. Sie beziehen selbst gegen vorherrschende Meinungen Position. Sie greifen Gescheiterten, zu kurz Gekommenen, denen, die ewig auf der Schattenseite stehen und denen, die man "Sünder" nennt, vorbehaltslos unter die Arme. Jeder Funken Menschlichkeit zählt in ihnen mehr als die Bilanz von Kosten und Nutzen. Und manchmal tun sie etwas, was von außen gesehen völlig zwecklos, überflüssig ist, und feiern ein Fest – der größte Luxus in Zeiten, da nur noch Rendite und Shareholder value gelten. Das alles steht in Kontrast zu dem, was sonst oft geschieht in der Kirche.
V
Reicht das aus, um sagen zu können, die Kirche, die Gemeinde sei der sichtbare Christus? Ich glaube: ja. Auch Jesus konnte man missverstehen, übersehen oder verleugnen. Das gehörte zu seinem Wesen, denn er gehörte ganz und gar zur Welt. Er hatte nichts an sich, was auf ihn besonders aufmerksam gemacht hätte. Er war einfach – aber war zugleich so, dass von ihm etwas ausging, was spürbar größer war als das, was man an ihm sehen konnte, ohne dass sich das einfach hätte fassen lassen.
Wenn wahr ist, was Paulus sagt, muss es sich mit der Kirche genauso verhalten: Man kann an ihr etwas wahrnehmen, was mehr ist als das, was die, die die Kirche sind, tun und darstellen. Anders gesagt: Wenn Kirche Kirche ist, wird an ihr spürbar sein, dass sie nicht einfach das Interesse einer Gruppe verkörpert wie beliebige andere Gruppen auch, sondern Gottes Zuwendung zur Welt, seine Sorge für sie und sein Interesse an ihr. Dann ist sie sichtbarer Christus, weil Jesus Christus für genau dieses Zugewandtsein Gottes zur Welt steht. Missverstehen oder verleugnen lässt sich das allemal – wie bei Christus selbst. Und oft genug geschieht das, was ringsum passiert, dann hätte sie dort, wo das so ist, Christus – und damit sich selbst – verraten. An uns selber liegt es zu beglaubigen, dass Paulus recht hat. Wir sind die Gefragten, wo Menschen nach dem Messias suchen.