Wahrheit aus der Wüste
2. Adv C: Lk 3, 1-6
I
In den Jahren, da ich im Gefängnis tätig war, habe ich erst eigentlich
verstehen gelernt, was Bilder bedeuten. Die Wände jedes Haftraums
wurden für mich zum Bilderbuch der Seele dessen, der darin
untergebracht war, Bilderbuch seiner Träume, seiner Ängste, der
Hoffnungen. Bilder auch zum Betäuben: Pinup-Girls ohne Ende aus den
Boulevard-Magazinen; Poster von muskelstrotzenden Kinohelden; auf einer
sonst kahlen Wand einzig das Hochglanzfoto einer Sportlimousine. Hie
und da einer, der ein Marienbild übers Bett heftete. Und ganz oft Fotos
von Freund oder Freundin, von Ehemann oder Ehefrau und von den Kindern.
Keiner wäre auf die Idee gekommen, die Beschreibung eines Menschen
aufzuhängen, der ihm viel bedeutet. Bilder sind wichtiger für uns als
Worte: Bilder prägen sich unauslöschlich ein, wenn Dinge geschehen, die
uns zuinnerst treffen. In Bildern formt sich, was wir hoffen und
fürchten. Für alles, was uns wichtig ist, finden und schaffen wir
Bilder.
II
Kein Wunder, dass es darum auch so etwas wie ein Bilderbuch zu den
Worten des Evangeliums gibt: das sind die Heiligen. Wie sie sind und
leben, dadurch machen sie sichtbar, was Gott und Glaube, was Reue,
Liebe und Freiheit heißt: Sie machen ihr Leben zu einem Bild für all
dies. Die Adventszeit, in der wir stehen, und ihre Botschaft, die haben
ein solches kleines Bilderbuch gleichsam ganz für sich. Vier Seiten hat
es: Vorgestern war der Gedenktag der Hl. Barbara, heute feiern wir den
Hl. Nikolaus, immer wieder, besonders übermorgen, am 8. Dezember,
denken wir an Maria, die Gottesmutter, die persönlich ganz in der
Erwartung Jesu, also adventlich gelebt hat. Ja, und heute begegnet uns
im Evangelium die Gestalt, die noch enger als die anderen drei zum
Advent gehört: Johannes der Täufer. Sein Bild prägt diese adventlichen
Tage wie kein anderes.
III
Das Evangelium nennt den Täufer Vorläufer Jesu, und
dieser selbst sagt über Johannes, er sei der größte je von einer Frau
Geborene unter den Menschen – also derjenige, der als Mensch, von
unten, der Wahrheit von oben, die Jesus verkünden wird, am nächsten
kommt. Und was ist das für eine Wahrheit, die Johannes verkörpert und
darum dann auch predigt? Seine Wahrheit gipfelt in dem Satz: Kehrt um
und lasst euch taufen zur Vergebung der Sünden. Wie kommt Johannes zu
dieser Botschaft? Das sagt uns das Evangelium durch das, was es über
Johannes erzählt.
Auf das Jahr genau und mit Namen berichtet Lukas, wann
Johannes aufgetreten ist: Tiberius regiert als Kaiser, Pontius Pilatus
ist Statthalter von Judäa, Herodes, Philippus und Lysanias haben die
ringsum liegenden Fürstentümer inne. Und in der Region haben Hannes und
Kajaphas das Sagen. – DA erging das Wort Gottes an Johannes. Dieser
eine Satz macht all die Großen von soeben, die Herren und Herrschaften
und Hochwürden zu Statisten. Sie alle verfügen nicht über die Wahrheit.
Rang und Titel verbürgen sie nicht. Wahrheit geschieht einzig zwischen
Gott und dem Menschen, der auf ihn hört, der nach innen ganz Ohr ist,
was ihm die Stimme des Gewissens zu sagen hat.
Das alles sagt Lukas also nicht bloß, um ein Datum zu fixieren für das
öffentliche Auftreten Jesu, von dem er erzählen will. Stattdessen
führen diese scheinbar so äußerlichen Angaben sozusagen senkrecht in
die Innenwelt des Evangeliums: Palästina stand damals unter
Fremdherrschaft, Herr des Landes ist der römische Kaiser Tiberius, von
dem die römischen Geschichtsschreiber das Bild eines misstrauischen,
grausamen, genusssüchtigen Herrschers entworfen haben; der südliche
Teil des Landes wird vom Statthalter Pontius Pilatus verwaltet, bekannt
als rücksichtslos, bestechlich, gewalttätig. Die Politiker aus dem
eigenen Volk - Herodes, Philippus, Lysanias - waren mächtig nur von des
Kaisers Gnaden, Speichellecker und Hofschranzen logischerweise; und die
geistlichen Autoritäten, die Hohenpriester Hannas und Kajaphas wussten
sich mit aalglatter Diplomatie und Oppertunismus über lange Jahre an
der Macht zuhalten. Ganz abgesehen davon, dass Galiläa, dieser
hinterste Winkel Israels den unzweideutigen Ruf hatte, das
Glasscherbenviertel der damals bekannten Welt zu sein; – DA erging das
Wort Gottes. Mitten in dieses Gewirr von Machtmissbrauch und Gekungel,
von Schleimerei und Niedertracht begibt sich Gott mit der Berufung des
Johannes. Nicht in einem windstillen Winkel heiliger Welt will er sich
einlassen auf die Menschen und ihre Geschichte, sondern dort, wo er
zugeht. Evangelium – gute Nachricht – ist das. Nicht von hoch oben in
der Hehre majestätischen Glanzes meldet sich Gott zu Wort, sondern
inmitten der Unansehnlichkeit, die die Welt der Menschen prägt: wo
geschachert und getreten wird, gelogen und betrogen. In diese Welt – in
diese unsere Welt – stellt Gott sich mitten hinein, bar allen Schutzes
und aller Rüstung.
Das ist das Vorzeichen, unter dem uns Lukas mit der Geschichte vom
Leben Jesu von dem Gott erzählt, der sich nicht zu gut ist für diese
Welt; ein Gott, der sich eher zum Narren machen lässt für die Welt, als
sie fallen zu lassen; einer, dem seine Ehre nichts wert ist, wenn es um
die Menschen geht. So heruntergekommen ist er im wörtlichsten Sinn des
Wortes. Keine Religion der Welt hat je von ihrem Gott so sprechen
dürfen. Die Gebildeten der Spätantike wie ein Kelsos empörten sich über
eine solche Geschmacklosigkeit. Christinnen und Christen müssen so
reden von Gott.
IV
Das fällt uns im Übrigen gar nicht leicht –
wahrzunehmen, dass Gott uns so unmittelbar nah sein will. Viel lieber
hätten wir ihn doch gern hoch oben auf Altären und Podesten. Da störte
er uns nämlich nicht so sehr. Kein Wunder darum, dass das an Johannes
ergehende Wort dieses Gottes für die Menschen als Ruf zur Umkehr und
zur Vergebung der Sünden laut werden muss. Sünde kommt ja von sondern,
ab-sondern, für mich allein sein wollen. Umkehren bedeutet:
einverstanden sein, dass Gott mit meinem Leben - so wie es ist - zu tun
hat.
Und wo Menschen eben dies zulassen, da bahnt sich etwas an, was Lukas
nur noch durch die uralten, jahrhundertelang geschliffenen Worte des
Propheten Jesaja zu sagen vermag: Eine Stimme ruft in der Wüste:
Bereitet dem Herrn den Weg! Ebnet ihm die Straßen! Jede Schlucht soll
aufgefüllt werden, jeder Berg und Hügel sich senken.... Und alle
Menschen werden das Heil sehen, das von Gott kommt.
In der Wüste, sagt das Evangelium, erging Gottes Wort auch an Johannes.
Die Wüste hat für alle Juden bis heute eine einzigartige Bedeutung. Sie
erinnert an den Auszug aus Ägypten ins gelobte Land hinüber, der durch
die Wüste führt, und auch an die Rückkehr aus dem babylonischen Exil.
Wüste ist der Ort der Gottesbegegnung, Ort der Entscheidung, der
Reinigung. Dort in der Wüste lenkt nichts mehr ab vom Wesentlichen, da
kann man sich nichts mehr vormachen. In der Wüste wird alles
weggebrannt von der sengenden Hitze, weggeschliffen von den
Sandstürmen, was nicht wirklich hält und Bestand hat - äußerlich
sowieso und innerlich erst recht. Noch heute bestätigt das jeder, der
durch eine Wüste gewandert ist. Da vergehen die Sprüche und die
Mätzchen, und die Masken fallen. Die Wüste verwandelt den, der durch
sie geht, weil sie ihn vor sich selber bringt, ohne das er sich drücken
kann. Das heißt: wahr werden. Aus diesem Schmelztopf, dem Fegfeuer der
Wüste bringt Johannes seine Botschaft mit – die Art, wie er ab jetzt
lebt, und seine Predigt:
Kehrt um und lasst euch taufen zur Vergebung der Sünden! Wenn
es gut ausgehen soll mit uns Menschen, will das heißen, dann muss
wirklich bis zum Grund alles anders werden. Dann können wir nicht so
weitermachen. Was ihr tut und lebt, ist heil- und gnadenlos. Gerade an
den Großen und Mächtigen, die sozusagen den Rahmen bilden für das
Auftreten des Täufers, – an ihnen wird das wie in einem Brennspiel
sichtbar: in ihren Macht- und Ränkespielen, ihrem giftigen,
misstrauischen Gegeneinander, das als einziges, was sie untereinander
noch verbindet, die Angst übrig lässt.
Wo Menschen Gottes Ruf an sie beantworten, indem sie sich
hinkehren zu ihm, wird ihnen eine Verheißung zuteil: Gräben, die die
Welt zerreißen, die uns behindern, werden zugeschüttet, die Barrieren,
die uns trennen und einsperren, werden niedergelegt werden. Mit einem
Wort: Gott selbst wird seine Gläubigen in die Freiheit führen. So hatte
einst Jesaja zu den Israeliten in der babylonischen Gefangenschaft
gesprochen und ihre Hoffnung auf eine gottgeschenkte Zukunft entzündet.
Lukas sieht diese Verheißung von neuem sich erfüllen in der Gestalt des
Täufers und in Jesus. Der Täufer ist die Stimme, Jesus selbst mit Leib
und Leben der befreiende Ruf Gottes, der jeden, der ihm traut, in die
Freiheit führt, über alle Hindernisse hinweg. Jesajas Verheißung endet
mit den Worten: Und alle Menschen – wörtlich: alles Fleisch – wird das
Heil schauen, das von Gott kommt. Das ist wieder so ein Satz, den nur
die Gläubigen des Alten und Neuen Bundes sprechen können: Denn Fleisch
ist in der Sprache der Bibel Sinnbild für das vergängliche schlechthin.
Aber gerade diesem unserem vergänglichen Leben ist das Heil zugesagt.
Nicht für außerhalb oder überhalb oder jenseits des irdischen Lebens
gilt diese Verheißung, sondern für das staubige, manchmal so armselige
Hier und Jetzt, in dem wir stehen. Gott mischt sich ein in die Welt und
ihre Geschichte, damit wir Menschen aus Fleisch und Blut befreit
werden, endlich so zu leben, wie Gott es uns seit Anbeginn zugedacht
hat. Das ist Evangelium.
V
Überall dort, wo Unfreiheit herrscht – im Politischen, auch in der
Kirche, genauso angesichts unfreier Beklemmung über einen selbst –, da
überall dürfen, ja: müssen die Christen um der Ernsthaftigkeit ihres
Glaubens willen Advent ansagen: Jesaja hat es in Babylon getan,
Johannes der Täufer im Israel der Zeitenwende, Lukas im Raum der jungen
Kirche, und wir verkünden heute: Gott ist für uns; er geht mit uns um
unserer Freiheit willen. Überall. Christsein heißt darum: Ich darf von
Gott etwas erwarten. Nicht, was nicht sein soll, muß immer so bleiben.
Ich sehe meiner Zukunft mit brennender Hoffnung entgegen. Und diese
Hoffnung hat einen Grund: Ich erwarte den siegreichen Advent des Herrn,
der alles, auch die Bruchstücke meines Lebens zu einem guten Ganzen
befreien wird, – ich erwarte ihn, weil er, der das verheißt, schon
einmal gekommen, schon einmal ganz heruntergestiegen ist, so sehr, dass
er nicht einmal mehr hat Gott sein wollen und darum ein Mensch wurde
wie wir. Der Advent, den wir dieser Tage begehen, ist Vergegenwärtigung
dieses Grundes, der uns ein Recht gibt, für uns und die ganze Welt zu
hoffen. Gott kommt; er hat für uns Zeit. Nehmen darum wir uns in diesen
Tagen auch Zeit, um betend unsere Hoffnung auf den Herrn brennender zu
machen.