Vor Gott stehen - 30. So C

Lk 18,9-14

          
I
Ein Rabbi kam am Sabbat zum Bethaus seiner Gemeinde. An der Schwelle aber blieb er stehen und weigerte sich einzutreten. Ich kann nicht hinein, sagt er, das Haus ist ja von Wand zu Wand und vom Boden bis zur Decke übervoll der Lehre und des Gebetes, wo wäre da noch Platz für mich? – Und als er merkte, dass ihn die Umstehenden verständnislos anstarrten, fügte er hinzu: Die Worte, die über die Lippen der Lehrer und Beter gehen, kommen nicht aus Herzen, die zum Himmel gerichtet sind. Deshalb steigen die Worte nicht zur Höhe auf, sondern füllen das Haus von Wand zu Wand und vom Boden bis zur Decke.

II
Der Mann muss ein feines Gespür für das gehabt, was zwischen Gott und Menschen geschieht. Er hat, als er zum Bethaus kam, sich nicht davon täuschen lassen, dass dort Leute versammelt sind, viele vielleicht sogar, dass sie fleißig beten, also ihrer heiligen Pflicht nachkommen, dass gelehrt über das Wort Gottes disputiert wird. Irgendwie hat er gemerkt, dass das alles, obwohl nach außen so fromm ausschauend, hohles Geklapper war. Die Beter und Schriftgelehrten meinten mit dem, was sie taten, gar nicht Gott. Sie meinten sich.

III
Dass Dinge des Glaubens zur Äußerlichkeit verkommen können, ja dass Menschen sogar das Heilige missbrauchen können zur Selbstdarstellung, das gibt es heute – in unseren angeblich so aufgeklärten Zeiten immer noch – und es wirkt nach wie vor. Nehmen wir ein Beispiel aus jüngerer Zeit: Der ganze Zinnober mit dem sogenannten Kruzifix-Urteil – ob also in öffentlichen Räumen wie etwa einem Klassenzimmer oder einem Gerichtssaal das christliche Glaubenssymbol, ein Kreuz,  angebracht werden dürfe. Ein oberstes Gericht fällt ein der Sache nach harmloses Urteil, formuliert aber schlampig. Es gibt Missverständnisse, Proteste erheben sich. Und ehe man sich’s versieht, schmieden bestimmte Kreise aus der ganzen Sache eine Waffe für den politischen Kampf. Auf Parteitagen wurden auf einmal demonstrativ Kreuze aufgehängt. Bei den von der Kirche initiierten Protestzügen marschierten Politiker in der ersten Reihe mit. Schaut nur alle her, wie christlich wir sind (und wählt uns darum auch wieder!). Aber dass sich im gleichen Land Menschen vor den gleichen Politikern in Pfarrgemeinden und Kirchen verstecken mussten, um nicht abgeschoben zu werden und daheim um Leib und Leben zu kommen – bis dahin, dass man Kinder in Abschiebehaft stecken wollte? Wie steht es da mit dem Christsein und der Frömmigkeit?

III
Das Problem scheint unausrottbar zu sein. Auch schon die Propheten im Alten Testament schlugen sich damit herum – und nicht weniger Jesus, z. B. auch im heutigen Evangelium. Da war er an einige Leute geraten, die sich ihre Gerechtigkeit zu gute hielten. „Gerechtigkeit“ heißt in unserer Sprache von heute: Gott und dem Leben gerecht werden. Gerechtigkeit ist absolut nichts Schlechtes. Auch Jesus fordert sie. Aber sie wird schlecht, wenn einer damit hausieren geht. Denn das heißt immer soviel wie: Sich etwas darauf einbilden, ein anständiger Mensch zu sein und andere, die das scheinbar oder tatsächlich nicht sind, zu verachten. So mancher von Ihnen wird aus schmerzlicher eigener Erfahrung wissen, wie sich das anfühlt, von anderen so behandelt zu werden. Und ob einer so mit seiner Gerechtigkeit umgeht, ist alles andere als nur eine Frage des Takts. Denn: das Selbstvertrauen, das er damit demonstriert, hat immer und unausweichlich einen Preis: das Gottvertrauen. Nur um dessen Drangabe kann einer ernsthaft meinen, aus sich und kraft seines Tuns, auch seines frommen Tuns, ein Gerechter zu sein.

Fast holzschnittartig legt Jesus da in einem Gleichnis die beiden Weisen dar, wie der Mensch sich vor Gott stellen kann. Da ist zum einen der Pharisäer. Wir dürfen uns von dem Beigeschmack, den dieser Name für uns heute hat, nicht gleich irreführen lassen. Die Pharisäer zur Zeit Jesu waren eine Gruppe in Israel, die die Gebote ernst nahmen, den Glauben entschieden zu erneuern suchten und dafür auch zu erheblichen persönlichen Opfern bereit waren. Jesus stand dieser Gruppe gerade wegen dieser ihrer Absichten viel näher, als man gewöhnlich meint. Aber er deckt schonungslos auch die Gefahr auf, in die einer, der pharisäisch denkt und lebt, geraten kann – wie eben der Pharisäer im Evangelium:

Er geht zum Beten in den Tempel, stellt sich hin und dankt Gott dafür, dass er nicht so ist wie die andern, die Räuber, Betrüger, Ehebrecher und auch der Zöllner, der zur gleichen Zeit dahinten im Tempel betet. Er dankt dafür im vollen Gefühl der Ehrlichkeit. Er ist wirklich froh so anders zu sein. Und er sagt noch hinzu, dass er zweimal die Woche fastet (statt nur einmal im Jahr, wie es vorgeschrieben wäre) und dass er weit mehr spendet, als das Gesetz vorschreibt. Aber wem sagt er das? Gott? – der erste Satz von Jesu Gleichnis heißt wörtlich übersetzt: Der Pharisäer stellte sich auf und betete zu sich folgendes. – Das sagt alles. Indem er betet, betet er gar nicht, weil Gebet nichts anderes sein kann als Gespräch mit Gott. Indem er betet, führt er stattdessen ein Selbstgespräch, einen Monolog. Er bleibt allein dabei. In der Sprache unserer Geschichte von vorhin gesagt: Sein Gebet kann nicht aufsteigen zu Gott. Es ist gleichsam überladen mit Selbstgefälligkeit und Stolz. Und so bleibt es im Bethaus liegen. Wohl aalt sich der Pharisäer in seinem Anders- und Bessersein und in seinen guten Taten. Aber zugleich sperrt er sich damit selber in sein Gebet ein. Diese Selbstgerechtigkeit mit ihrer Kehrseite, den anderen, der nicht so ist wie man selbst, zu verachten, die wird zur Falle und macht das Gebet dessen, der so von sich überzeugt vor Gott tritt, buchstäblich zum Gefängnis.

IV
Was den Zöllner so himmelweit vom Pharisäer unterscheidet, ist, dass er genau in diese Falle nicht tappt. Jesus verharmlost oder entschuldigt das Zöllnersein in keiner Weise. Und Zöllner sein war das Letzte. Zöllner verdienten ihren Lebensunterhalt, indem sie eine Zollschranke von den Römern, den verhassten Besatzern, pachteten und dann von den Mitbürgern soviel einzutreiben suchten, dass auch für sie selbst noch etwas abfiel. Und nur der Brutale kam dabei zu etwas. Der Zöllner schämte sich beim Gebet vor Gott, weil ihm all das bewusst war. Und auch, dass er sich vor Gott schuldig machte, indem er die eigenen Glaubensgeschwister ausnahm. Voller Schmerz schlägt er sich an die Brust, weil er weder aus noch ein weiß. Denn der einzige Ausweg aus seiner Lage wäre, restlos alles bis auf Heller und Pfennig zurückzuzahlen plus 20 % Zins. So stand es im Gesetz. Aber wie? Völlig aussichtslos. Er konnte nur noch flehen: Gott sei mir Sünder gnädig.

V
Diese schonungslose Ehrlichkeit, die gibt ihm, dem demütigen Beter, eine Würde vor Gott, obwohl er immer noch Sünder ist. Eine Würde zudem, an die die ganzen Werke der Frömmigkeit, auf die der Pharisäer pocht, nicht einmal von Ferne heranreichen. Das ist auch der Grund, weshalb Jesus – skandalös für die Ohren seiner Hörerschaft – vom Zöllner, also vom betenden Sünder sagt, er sei – anders als der fromme Pharisäer – als Gerechter vom Beten heimgegangen, also als jemand, der Gott gerecht geworden ist. Das bedeutet eine Ungeheuerlichkeit: Man kann als Sünder auf rechte Weise vor Gott stehen. Dass diese unglaubliche Weise menschlicher Gottesbegegnung buchstäblich dazu drängt, fortgeführt zu werden und in eine Geschichte der Befreiung aus der Sünde zu münden, versteht von selbst, wer immer auch nur ahnt, was das bedeutet, als Sünder, geschnitzt aus krummsten Holz, Gott unter die Augen treten zu dürfen. Solange ein Mensch noch einen Funken Hoffnung für sich im Leib hat, muss ihn dieses Gleichnis treffen.

Mit dem, was der Zöllner aussprach, ist er Gott und dem Leben ganz gerecht geworden. Er hat absolut nicht mehr auf sich gesetzt – wie der Pharisäer es tat. Er liefert sich Gottes Barmherzigkeit aus. Selbstgerechtigkeit kann das nicht. Ihr fehlt es an der Demut, die dafür nötig ist. Und das ist gnadenlos. Nur, wer nicht auf sich setzt, muss auch nicht an sich verzweifeln. Das ist Gottes Logik. Sie steht quer zu dem, wie wir gewöhnlich über uns denken. Aber sie trägt. Sie könnten es ausprobieren.