Vom Vor-Läufigen

Actus Academicus November 2009: 1 Kor 13, 1-13 + Mk 10, 46-52 

I
Heute begehen wir den ersten Actus Academicus unserer Fakultät in den 237 Jahren ihres Bestehens. Niemals vorher ist das geschehen. Wir feiern gemeinsam mit allen, die es im letzten Studienjahr zu einem Abschluss gebracht haben: vom Master über das Diplom, den Magister und den Doktorgrad bis zur Habilitation, also der Lehrbefähigung für eine künftige Professur.

Und alle, die sich da einreihen dürfen, freuen sich. Zusammen mit Ihren Familien, Freunden, Partnern und Lehrern sind sie glücklich, einen Abschnitt des Lebens zum Abschluss gebracht zu haben. Ich gratuliere Ihnen!

II
Diese besondere Stunde ruft in mir zugleich eine seltsame, nein, ich sage es ehrlich: eine beklemmende Erinnerung wach: Die erste Diplomfeier, an der ich hier als neuer Dozent teilgenommen habe, war 1996. Ihre damaligen Kommilitoninnen und Kommilitonen hatten in die Eucharistie eine Pantomime eingebaut, passend, packend, gekonnt: Ein Tänzer, andeutungsweise gekleidet wie höherer Klerus, dreht und windet sich unter einem Anspruch, den er selbst erlebt und irgendwie weiterzugeben sucht. Aber am Ende kommt er nicht weiter als bis zu einem stummen Schrei, nicht unähnlich dem, was die berühmte Bildserie Edward Munchs festhält: stummes Gellen, das dem genauen Betrachter durch und durch geht.

Wenn es das ist, was nach 12, 13 oder mehr Semestern Theologiestudium oder einer wissenschaftlichen Qualifikation herauskommt, dann hat eine oder einer entweder das völlig Falsche studiert, ist sie oder er stinkfaul gewesen oder haben Sie Lehrer gehabt, die schlichtweg Idioten waren – oder Mehreres wenn nicht alles davon zugleich.

Ihre emotionale Verfassung wird an Tagen wie heute vielfächrig sein: Seit langem liebgewordene Gesichter werden Sie aus dem Auge verlieren, die großen Freiheiten des Studenten- und Doktorandenlebens sind definitiv zu Ende, dort, wo sie hinkommen – egal wo – wird man Sie mit Erwartungen eindecken. Aber wenn bei all dem nicht auch ein Funken Freude darüber aufglimmte, dass Sie jetzt in der Gemeinde, in Gesprächen, vor Schülerinnen und Schülern, in der Wissenschaft oder wo sonst immer vom Gott Jesu Christi reden und eben dafür als Fachfrauen und Fachmänner gelten, – wenn die Freude darüber gänzlich fehlte, dann wäre mit Ihrem Studium irgendetwas total schief gelaufen.

III
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Es geht überhaupt nicht darum, große oder gar viele Worte über Gott und den Glauben zu machen. Andersherum wird ein Schuh daraus: ein Gutteil Ihres Studierens und Forschens war dazu gedacht, die durchaus engen Grenzen unseres menschlichen Redens über Gott respektieren und sich zugleich innerhalb ihrer verantwortet bewegen zu lernen. Aber wenn die Freude daran, dies tun zu können und zu dürfen völlig fehlte –- wovon wollten Sie dann als Theologin und Theologe eigentlich leben?

Keine Frage: Paulus hat in 1 Kor 13 recht – auch Erkenntnis, gerade theologische, zeichnet der Index der Vorläufigkeit aus. Wörtlich übersetzt: Auch sie wird vernichtet werden, weil sie der Wahrheit nur in bruchstück- und rätselhaftem Spiegelbild fähig ist. Die Liebe, die – nochmals wörtlich übersetzt – niemals fehlt, ist jetzt schon unbedingt und bleibt darum auch dann noch, wenn alles andere vergeht. Das macht sie zum größten Charisma. Aber das will erst einmal vernommen und also erkannt sein. Natürlich: Erkenntnis und Tat sind zweierlei. Aber Tat, die nicht weiß, was sie tut, ist keine Tat, sondern Willkür, Zufall oder Laune. Auch für das Tun der Liebe gilt das. Der christliche Glaube hat seit Anbeginn für sich in Anspruch genommen, auch sagen zu können, warum er auf die Liebe setzt – das ist so etwas wie der Gravitationspunkt aller christlichen Gottrede. Das antiintellektuelle Ressentiment gegen die Theologie, mit dem heute selbst hochrangige Hierarchen hantieren, kann sich auf Paulus jedenfalls nicht berufen und ist überdies gefährlich, weil es den öffentlichen Anspruch des Evangeliums der Liebe beschädigt.

IV
Wie Erkenntnis und Glaube sich zueinander verhalten, wird durch die Bartimäus-Episode aus dem heutigen Evangelium regelrecht ins Bild gesetzt: Da sitzt der Blinde, hört, dass es Jesus sei, der da vorbeikomme, schreit nach ihm und wagt, nachdem Jesus ihn zu sich rufen ließ, – wagt es als Blinder aufzuspringen und zu Jesus zu gehen. Hab’ Mut!, sagen die Umstehenden zu ihm nicht ohne Grund. Denn den braucht er: Einzig auf das hin, was er gehört hat, muss er aufspringen. Es ist der Sprung des Glaubens, ein Sprung ins Dunkle, ins radikal Ungesicherte. Und es ist dieser Sprung, der ihm sein Augenlicht wiederschenkt.

Um wirklich zu verstehen, was da geschieht, müssen wir freilich auch das Ungesagte dieser Episode mit dazunehmen: Hätte Bartimäus nach Jesus geschrien und wäre er schließlich – durch Jesus ermutigt – aufgesprungen in der Nacht seiner blinden Augen, wenn er nicht zuvor schon irgendetwas von diesem Nazarener gehört gehabt hätte, irgendetwas, das seine Hoffnung zu entzünden vermochte? Diese Hoffnung muss es gewesen sein, die Bartimäus seinen ganzen Mut zusammennehmen ließ, den Sprung des Glaubens zu tun.

V
Die Jesus-Geschichte, mit allem, was zu ihr gehört, mitten im Stimmengewirr der Welt durch Erzählen präsent halten, auf dass sie Hoffnungen entzünde, und vom Grund dieser Hoffnung, die den christlichen Glauben beseelt, jedem und jeder, die danach fragen, Rechenschaft zu geben, dafür haben Sie Theologie studiert. Theologische Erkenntnis ersetzt nicht Ihren eigenen Glauben und weckt nicht den der anderen. Aber ohne die theologische Einsicht, die bis an die Grenzen des ihr Möglichen geht, würden Sie für sich selbst darauf verzichten, zu prüfen, ob Sie bis ins Mark überzeugt sind von dem, was sie glauben und anderen sagen. Und diesen anderen gegenüber ließen Sie ohne ein bis zum Grunde vordringendes Erkenntnisbemühen letztendlich in der Schwebe, wofür sie eigentlich stehen. Das aber sind sie diesen, jenes sich selbst schuldig.

Dass all unser Erkennen in Sachen Gottes nur vorläufig ist, tut seiner Notwendigkeit keinen Abbruch. Vielleicht ist diese Einsicht sogar das Elementarste, was man als Theologin und Theologe gelernt haben sollte. Von der Spannung zwischen Beidem ein Leben lang geplagt zu sein, das wünsche ich Ihnen. Und das nicht aus Bosheit: Nur wo Spannungen sind, tut sich etwas. Alles Gute.