Unterbau

Fronleichnam C: Lk 9,11b-17

I
Es ist ja wahr: Fest ist nicht gleich Fest im Kreis des Kirchenjahres. Schon theologisch nicht. Und erst recht nicht für die Vielen, die von den Hoch-Zeiten des Glaubens nur noch gleichsam die äußersten Fransen populären Brauchtums wahrnehmen. Weihnachten, ja, das läuft – wenn auch unter dem völlig falschen Label „Weihnachtsmann“; Ostern geht gerade noch, weil der Osterhase nicht totzukriegen ist – und unsere muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger sagen dann immer: jetzt halten die Christen wieder das Eier-Fest. Nach Pfingsten fragt man besser gar nicht. Selbst der Küster einer großen Pfarrkirche wollte neulich von mir wissen, warum man denn zu Pfingsten da einen Adler auf den Hochaltar stelle – er kannte das Geistsymbol der „Taube“ nicht.

II
Und dann noch mit Fronleichnam kommen! Ein Fest, entstanden Anfang des 13. Jahrhunderts auf dem Hintergrund von Visionen der Hl. Juliane von Lüttich, das allerdings rascheste Verbreitung fand. Kein Geringerer als der Hl. Thomas von Aquin schrieb die Messtexte und die Hymnen wie das Pangue lingua oder das wunderbare Adoro te devote, die wir noch heute singen. Eine wechselvolle Geschichte folgte, nicht zuletzt in Teilen auch eine schlimme Verzweckung in konfessionellen Auseinandersetzungen, so sehr, dass es bisweilen zu Verboten des Festes durch politische Autoritäten kam. Heute dagegen gehen nicht selten bei der katholischen Prozession evangelische Pastorinnen und Pastore in Amtstracht mit. Das kann nachdenklich machen. Steckt womöglich mehr dahinter, als das Äußere und die Geschichte vermuten lassen?

III
Winke in diese Richtung gibt – wie so oft und wie immer unerwartet – einer der großen Poeten unserer Gegenwart: Peter Handke. Die Wut auf manche Erfahrung mit der Kirche und ihrem Personal hat ihn nie davon abgebracht, sich ein außerordentlich empfindliches Sensorium für die Tiefenschicht des Evangeliums und auch der heiligen Zeichen und Riten der Liturgie zu bewahren – gerade auch für diejenigen Momente, mit denen sich ein Gutteil der heutigen Theologie durchaus schwer tut. Erstaunlich oft geht es dabei um die Eucharistie. So erzählt Handke etwa in dem Buch Die Lehre der Sainte Victoire von der Faszination, die für ihn zu Kinderzeiten in seiner Heimatkirche vom Tabernakel ausging. Die Tagebuchnotizen kreisen immer wieder um mitgefeierte Gottesdienste, die Ergriffenheit einer Gemeinde, in die er zufällig kommt, ihre Kommunion. Ein Schuhputzer in Split wird ihm kraft seines Hingegebenseins an sein Tun zur lebendigen Gründonnerstagsikone des fußwaschenden Jesus. Und dann eine unglaubliche Szene gegen Ende seines bislang letzten großen Buches, der romanlangen Reiseerzählung Die morawische Nacht:

Die – natürlich autobiographische – Hauptfigur, der Wanderer, kommt nach langer Zeit zu seinem Bruder in den väterlichen Bauernhof, der zugleich eine Dorfschänke ist. Dort gibt es einen Keller, an den sich der Wanderer noch erinnert, dass er als Lagerraum für die Äpfel aus dem großen Garten genutzt wurde. Spät nachts führt der ansässige Bruder den Wanderer dort hinunter –

„[…] und siehe da, dieser [der Apfelkeller; K.M.] zeigte sich umgestaltet in eine Versammlungsstätte, eine besondere allerdings. War das nicht eine unterirdische Kirche […]? Und hatte es denn nicht immer geheißen, bestätigt auch durch alte Kupferstiche, dass an der Stelle des Sippenanwesens die erste kleine Dorfkirche gestanden war? Ja, das war sie, ihr Altarraum, im Lauf der Jahrhunderte durch den rundherum angehäuften Bauschutt tief unter die Erde geraten. Der Bruder hatte sie eines Tages bei Grabungsarbeiten im Keller entdeckt und insgeheim freigelegt – das Gewölbe des Obstkellers war das einstige Kirchengewölbe gewesen. Und nun dient sie wieder als Gotteshaus, allerdings auch eher insgeheim, nicht offiziell jedenfalls, nirgends angezeigt, eine Art Krypta, oder Katakombe. Manche Fernfahrer – es gab solche – stiegen aus der Gaststube oben zu ihr hinab als zu ihrer Autobahnkirche; manche Alteingesessenen im Dorf – es gab noch welche […] – psalmodierten an den Feierabenden, bevor sie oben zechten (oder auch nicht), da unten den Rosenkranz und die Marien- und Allerheiligenlitanei; und die Neuzugezogenen aus ‚Samarkand’ benutzten, anfangs wenige, inzwischen mehr und mehr […] den Keller für ihr gemeinsames Freitagsgebet, bei dem sie sich in dem kleinen Saal, anders als in der Moschee, leicht so eng zusammenstellen konnten, dass zwischen ihnen, wie von ihrer Religion gefordert, kein Raum blieb für das Eindringen des Schaitan, oder des bösen Dämons. Und es kaum auch mehr und mehr vor, dass alle die drei Gruppen, die Fernfahrer, die Einheimischen und die Zugezogenen, so wie oben in der Schänke sich unten in der Katakombe zusammenfanden. Und? Nichts sonst. Nichts sonst als der gute Wille, und die Menschen guten Willens. Nicht nur guten, sondern auch anderen Willens! Und die Schwellen? Keine. […] in der Mauerhöhlung, Ort der Mostfässer einmal, jetzt Apsis und Mihrab, ein langer ovaler Tisch; hell ausgeleuchtet die Krypta unter dem Gasthof, still, ohne einen Ton von der Autobahn, und das Vordringliche dann der Geruch: nach Most und Äpfeln, Äpfeln und Most.“


IV
Welch unglaubliches Bild: die von außen gesehen verschüttete Kellerkirche unter der Dorfschänke – im Grunde eine poetische Inszenierung sämtlicher Brotvermehrungs-, Speisungs- und Mahlerzählungen aus den Evangelien. Die Einheimischen kommen, die Zugezogenen und die Fremden, Durchreisenden. Sie stillen ihren Hunger, ihren Durst, den leiblichen. Und dann oder davor auch den ihrer Seele. Gerade, wie wenn das Leiblich-Irdische getragen würde, von dem was seit je da unten im Keller geschah und wieder und sogar nochmals ganz neu geschieht: die Feier des Brotbrechens, des miteinander Hinhörens auf Gottes Wort, in all seinen Weltdialekten jetzt sogar, so wie wenn es gar keine Schwellen, keine Hindernisse mehr gäbe. Da wird die Kellerkirche zum signum prognosticum geradezu, wie die Alten gern sagten, zum Vorausbild des Kommenden, auf das wir zuhoffen: dass – getragen von der Substanz der Eucharistie, also der Liebe und Güte – sogar noch die getrennten Religionen zueinander finden und sich verleiblichen in Gemeinschaften von Menschen guten, anderen Willens. Ein Wunder, mindestens so groß wie dasjenige der Brotvermehrung aus dem Evangelium, wo in der eucharistischen Atmosphäre, die Jesus im Aufblicken zum Himmel, im Segnen und Brotbrechen vergegenwärtigt, auf einmal das scheinbar Wenige, die fünf Brote und zwei Fische, für die Vielen reichen – weil die Liebe immer noch einmal einen Weg findet, dem anderen gut zu sein.

V
Wenn wir Katholiken heute Fronleichnam feiern und mit dem Geheimnis unseres Glaubens gleichsam in die Öffentlichkeit treten, das Bröckchen Eucharistie, also gewandelter Welt, wie eine kleine Nussschale Sauerteig ins große Ganze der Lebenswelt tragen, die wir mit so vielen anderen, Fremden teilen, dann sagen wir damit im Zeichen: Wir glauben an die Macht der Güte. Wir glauben daran, dass das Erkennungs- und Erinnerungszeichen Jesu und das, wofür es steht, das Sichtbare und Alltägliche, das Miteinander der Verschiedenen und Fremden tragen kann und begründen – auch wenn es selbst von außen gesehen wie verschüttet wirkt. In der Tiefe von allem: das mysterium fidei. So wie Handkes Keller-Krypta das Fundament für das Gasthaus oben bildet, das allen offensteht. Und könnte nicht sein, dass der eine oder die andere, die sich oben stärken, eines Tages auch einmal hinuntersteigen und dort in der Stille verweilen mag und vielleicht sogar den feinen Duft der einst dort gelagerten Äpfel und des Mosts gewahrt, will sagen: einen Hauch des Paradieses, von dem alles herkommt und das uns wieder zugesagt ist?

Für die Zeit bis dahin dürfen wir das Brot teilen und den Becher mit Wein, dass wir durchhalten auf dem Weg. Und heute an Fronleichnam machen wir für alle sichtbar, wovon wir leben. Vielleicht wird für manche aus der Ferne oder der Fremde eine Einladung daraus.