Trügerische Selbstverständlichkeit

Erntedank C: Lk 12, 15-21   

 I
Es ist schon eine Weile her, da bekam ich von einem Kollegen einen Neujahrsgruß, der ungewöhnlich war. Vorne drauf stand nicht: „Alles Gute“, „Gottes Segen“ oder – auf neudeutsch – „Happy new year“, sondern da stand: „Weltstatistik“. Ich blätterte auf und las:
Für Tage, an denen man denkt, es gehe einem so schlecht wie sonst niemandem:
1.    Falls Du heute Morgen nicht krank, sondern gesund aufgewacht bist, bist Du glücklicher als 1 Million Menschen, welche die nächste Woche nicht erleben werden.
2.    Falls Du nie einen Tag Krieg erfahren hast, niemals die Einsamkeit einer Gefangenschaft oder Hungersnot, dann bist Du glücklicher als 500 Millionen Menschen dieser Welt.
3.    Falls sich in deinem Kühlschrank Essen befindet, du Kleider hast, ein Dach über dem Kopf und ein Bett zum Schlafen, bist du reicher als 75% aller Erdenbewohner.
4.    Falls du ein Bankkonto hast, Geld im Portemonnaie und auf Kleingeld nicht achten musst, gehörst Du zu den 8% der wohlhabenden Menschen auf dieser Welt.
5.    Falls Du diese Statistik liest, bist du besonders privilegiert, denn Du gehörst nicht zu den Milliarden Menschen, die nicht lesen können.

II
Selten hat mich eine Grußkarte nachdenklicher gemacht. Ich fühlte mich ertappt. Beim undankbar Sein. Nicht undankbar für dieses oder jenes. Sondern beim Undank der Selbstverständlichkeit, mit der ich voraussetze und erwarte, über all das zu verfügen, was da aufgelistet ist – und trotzdem auch noch zugleich manchmal das Gefühl zu haben, doch eigentlich Anderes, Besseres zu verdienen, als das, was mir gegeben ist. Es war nicht schön, aber bei diesem Nachdenken, musste ich mir eingestehen: Das Gleichnis vom reichen Bauern aus dem Lukasevangelium hält dir einen Spiegel vor.

III
Der Mann erwartet eine gute Ernte. Vergnügt reibt er sich die Hände und überlegt im stillen Kämmerlein, wie er sich diesen Segen zunutze machen kann. Die ganze Ernte wird er horten – und sein Leben wird ein anders werden: Essen, Trinken, Fröhlichsein – er wird seine Tage genießen. Für lange Jahre wird es reichen. Die Zeit der Sorgen ist vorbei. Was kann mir noch passieren?

Da hatte er sich eine recht eingängige Lebensphilosophie zurechtgezimmert: Ich habe mein Leben selber in der Hand; mein Besitz, mein Status garantiert mir das. Ich bin meiner Sache sicher und je mehr ich davon habe, desto sicherer darf ich mich fühlen. Alles, was um diesen Mann herum passiert, das sieht er mit der Brille von Kosten und Nutzen, Mittel und Zweck, Haben und Horten. Aber – nur einen kurzen Momente lang scheint diese Logik der Sicherheit plausibel, denn: schon die allernatürlichste Sache von der Welt – dass der Mensch einmal sterben muss, – schon diese Selbstverständlichkeit entlarvt die Lebensphilosophie dieses Mannes als buchstäblich bodenlos naiv. Denn der Tod konfrontiert ihn mit der Frage: Wem wird all der Besitz einmal gehören? Wozu das alles? Und schon auf diese banale Frage weiß der Reiche keine Antwort mehr zu geben.

Das aber ist noch nicht alles. Es kommt noch viel dicker. Jenes Lebensprinzip der Selbstsicherheit hat der reiche Bauer mit sich allein ausgemacht, im Selbstgespräch. Er braucht keinen anderen dazu, er kann gar keinen anderen brauchen, denn in seinem Lebensentwurf ist kein Platz mehr für ein Du, für keinen Menschen und keinen Gott. Dass Gott selber ihn dazwischenreden könnte – darauf kommt dieser Mann gar nicht mehr. Das ist tragisch, weil er damit verrät, dass in seinem Menschsein schon etwas ganz Entscheidendes durchschnitten ist. Denn Gott ruft ja den Menschen in sein Dasein. Und solches Dasein kann folglich nur gelingen als Antwort auf diesen ursprünglichen Ruf. Menschliche Existenz glückt wesentlich im Dialog mit dem Du Gottes. Dass stattdessen der Besitz – die Habe, Ansehen, Status – das Gelingen des Lebens garantieren soll, – auf diese Idee kann nur kommen, wer diesen Dialog mit Gott bereits unterbrochen hat.

Genau deshalb legt Jesus im Gleichnis Gott selber die alarmierende Anrede "Du Narr" in den Mund. "Narr" – das ist in der Sprache der Bibel derjenige, der Gott praktisch verleugnet. Die Lebensphilosophie der Selbstsicherheit auf der Basis des Habens ist nie der praktische Atheismus – eine Gottvergessenheit, die viel gefährlicher ist als irgendein lautstarker Protest gegen Gott, denn: diese praktische Leugnung schleicht sich heimlich, ohne viel Aufhebens zu machen, in die Seelen ein. Viele sind heute gottlos auf diese Weise geworden, die empört wären, so bezeichnet zu werden. Und dennoch ist es so. Denn ein Mensch, der mit Gott nicht mehr rechnet und sein Leben an der Habe festmacht, der hat den Schöpfer und die Schöpfung als Partner verloren: Seinen Gott vergisst er, die Dinge um ihn herum werden ihm zum Zeug und die anderen zum Feind. Wer auf diese Lebensphilosophie der Selbstsicherheit baut, wird deshalb auch zwei urmenschliche Dinge nicht mehr können: nicht mehr danken und nicht mehr teilen.

IV
Heute feiern wir das Erntedankfest. Wer das tut, der bekennt, dass er aus Gottes Hand lebt. Die Früchte aus den Gärten und von den Feldern liegen wohlgeordnet vor den Altären unserer Kirchen. Prächtig sind die Erntekronen gebunden. Wird so nicht augenfällig, dass wir noch fähig sind zu danken und also Gott in unser Leben einlassen? Eines freilich will zu diesem Fest nicht passen: Die Spu-ren, die wir Menschen in unserer Welt hinterlassen. Ganze Landstri-che werden durch Ausbeutung zerstört, Flüsse, selbst Teile von Weltmeeren verwandeln sich in Kloaken, die Luft macht uns krank vor lauter Dreck, der Wald vor unseren Augen ringsum wird in ab-sehbarer Zeit nicht mehr sein. Wie kann das geschehen? Die Ant-wort darauf ist gewiss vielschichtig und zugleich im Letzten erschre-ckend einfach. Denn: was da passiert, das sind die Spuren einer Menschheit, die Gott ausgeschlossen hat aus ihrer Welt. So drückt sich ein Leben aus, das nur noch auf sich selber setzt und dabei allmählich Angst bekommt. Die heimliche Gottlosigkeit reißt uns in einen bodenlosen Abgrund hinein und noch im Sturz raffen wir die Dinge zusammen – als könnten sie uns Halt geben. Das ist es, was Gottes Werk zuschanden macht. Das Antlitz der Erde heute ist der Spiegel dieser Gottlosigkeit. Denn ein Herz voll aufrichtigen Dankes geht anders um mit den Dingen der Welt, als  viele das heute zu tun gewohnt sind. Mit Achtung und Zärtlichkeit nämlich würde es den Geschöpfen begegnen, die nicht in der Gebärde der Habgier. Sol-che Freiheit im Angesicht der Schätze unserer Erde werden wir frei-lich nur dann gewinnen, wenn wir selber uns immer schon getragen glauben von Gottes Achtung für uns und umsorgt von seinem Wohlwollen, das viel und mehr als genug für uns übrig hat. Aufrich-tiger Dank für die Gaben der Erde kommt allein aus wahrhaftem Glauben an die Nähe Gottes. Die inständige Bitte um ein glauben-des Herz muss deshalb an diesem Fest all unseren Liedern voraus-gehen, damit ihr Dank wahr sein kann.

Und auch teilen wird können, wer aus Glauben dankbar ist. Er oder sie muss ja nicht mehr alles aus Sorge um sich selber zusammenkrallen. Das Herz wird nicht mehr ersticken an den, was den Notleidenden vorenthalten bleibt. So jemand wird auch nicht mehr heimlicher Atheist, Atheistin sein, denn das ist auch, wenn jemand meint, Gott und der Mensch neben ihm hätten miteinander nichts zu tun.

V
Solchermaßen geübte Solidarität anzumahnen, steht heute schnell unter dem Verdacht, einem naiven Moralismus zu entspringen, den man gern höhnisch Gutmenschentum nennt. Aber das täuscht. Aus Egoismus verweigertes Teilen ist brandgefährlich. Selbst Niklas Luhmann, der ansonsten staubtrockene, allem Pathos abholde Begründer der Systemtheorie, ist darüber zutiefst erschrocken, als er während einer Reise durch Südamerika mit eigenen Augen sah, was verweigerte Solidarität anrichtet. In einem seiner letzten Texte schrieb er:
Zur Überraschung aller Wohlgesinnten muss man feststellen, dass es doch Exklusionen gibt, und zwar massenhaft und in einer Art von Elend, die sich der Beschreibung entzieht. Jeder, der einen Besuch in den Favelas südamerikanischer Großstädte wagt und lebend wieder herauskommt, kann davon berichten. Aber schon ein Besuch in den Siedlungen, die die Stilllegung des Kohlebergbaus in Wales hinterlassen hat, kann davon überzeugen […] es ist von Ausbeutung die Rede oder von sozialer Unterdrückung […]. Wenn man jedoch genau hinsieht, findet man nichts, was auszubeuten oder zu unterdrücken wäre. Man findet eine in der Selbst- und Fremdwahrnehmung aufs Körperliche reduzierte Existenz, die den nächsten Tag zu erreichen sucht.
Vermutlich müssten wir nicht einmal nach Wales reisen, sondern nur in ein paar Randlagen Berlins oder Duisburgs gehen, um das Gleiche wie Luhmann zu empfinden. Aber wenn das so ist: Wie könnten wir heute aufrichtig für alle guten Gaben danken, wenn wir nicht zugleich anerkennen würden, dass wir jenen Ausgeschlossenen die oder der Nächste sind. Und wenn wir nicht mehr für selbstverständlich nehmen, dass es uns in ganz Vielem gut geht, wird solcher Anerkenntnis auch unschwer das Tun folgen.