Den Richter erwarten

2. Advent A: Mt  3,1-12

             
I
Reiner Kunze, der 1977 aus der damaligen DDR exilierte Dichter, ist im vergangenen August 80 Jahre alt geworden. Sein Markenzeichen seit langem: die Kürze und Prägnanz seiner Dichtungen, fast wie japanische Haikus, abgerungen einem langen Schweigen. Denn das allein wohl öffnet die Tür zu einer Einfachheit, die sich nicht mehr groß erklären muss. In einem älteren Interview blitzt ein wenig auf, woher diese Grundhaltung vermutlich kommt. Da erinnert sich Kunze an eine Begebenheit aus seiner Kinderzeit: Mein Großvater, ein Steinkohlebergmann, der über vierzig Jahre unter Tage gearbeitet hat, war ein gläubiger Mensch und ich habe ihn geliebt, sagte er da. Ich habe ihn nie in die Kirche gehen sehen, aber ich sehe ihn noch heute am Fenster sitzen und Pfeife rauchend die Bibel lesen. Der Himmel war für ihn ein Geheimnis, das ihn überwältigte und dem er sich demütig zu nähern suchte. Einmal, als er mich zum Kühe hüten mitgenommen hatte, versetzte ich einer Kuh einen Stockschlag. Mein Großvater sprach damals auf mich ein, als hätte ich etwas Unverzeihliches getan. „Du mußt mit ihr reden“, sagte er. Vielleicht sprach in diesem Augenblick der heilige Franziskus aus ihm. Er lebte die Bibel, wie er sie verstand... – Aber ich entsinne mich auch, dass mir als Kind eine Frau ein Buch in die Hand drückte, in dem alle nur denkbaren Martern der Hölle abgebildet waren – ein teuflisches Buch, vor dem sich meine lockernde Kinderseele zuletzt nur noch durch den Gedanken retten konnte: Das gibt es doch gar nicht! Ich weiß das noch sehr genau: – ich hatte Wochen der Höllenangst verbracht, und eines Tages erlöste mich dieser Gedanke. Vielleicht verließen mich an diesem Tag mit den Teufeln auch die Engel.

II
In diesen paar Sätzen sammelt Kunze wie in einem Brennspiegel die ganze Not, die uns Christinnen und Christen befällt, wenn die Rede auf das Ende, auf Gericht und Hölle kommt. Will einer diese Dinge ernst nehmen, so fängt er fast zwangsläufig an, seine Vorstellungen davon in schärfsten Worten, in düsteren Gestalten und grellen Farben zu zeichnen. Denken Sie an Michelangelos Kolossalgemälde in der Sixtinischen Kapelle oder an die zahllosen apokalyptischen Mosaiken und Fresken in alteuropäischen Kathedralen. Was läge näher als – wie Kunze – durch Leugnen die unerträgliche Last von der Seele zu werfen, wenn solches Fürchten einmal in Angst umgeschlagen ist? Doch auch den Preis eines solchen Akts der Selbstbefreiung verschweigt der Dichter nicht: Vielleicht verließen mich an diesem Tag mit den Teufeln auch die Engel, sagt er dafür: im Leugnen des Gerichts werden wir unfähig zu verstehen, was „Himmel“ bedeutet. Das ist unsere Ausweglosigkeit: Angsthaben oder Zurückgeworfensein auf die eigene Einsamkeit.

III
Das Evangelium mildert diese Not nicht ab, es verschärft sie sogar. Ungeschminkt muss gesagt werden: Gottes Gericht über uns ist das eigentliche Leitthema des ganzen Matthäusevangeliums – angefangen mit der Erzählung vom Wirken des Täufers Johannes bis hin zu Jesu Rede über die Endzeit. Aus 148 verschiedenen Geschichten besteht das Matthäusevangelium, in nicht weniger als 60 von ihnen ist vom Gericht die Rede. Woher also hätte ein Christ, der seinen Glauben auch nur halbwegs ernstnimmt, das Recht, die Frage nach dem kommenden Gericht als überholt, als belanglos wegzuschieben? Sehen wir also zu, was uns darüber gesagt wird!

Da tritt Johannes auf, selber eine Gestalt so außerhalb des Gewohnten wie er draußen, außerhalb der Stadt in der Wüste Judäa sich aufhält. Und genauso ausfällig predigt er: die Hautevolee und die Frommen schnauzt er mit Schimpfwörtern an, als sie ihm unter die Augen treten: Ihr Schlangenbrut, glaubt ihr vielleicht, es reicht schon, wenn ihr euch hier taufen lasst von mir, aber im Innern die Alten bleibt? Nichts, was ihr tut, und nichts, was ihr seid, hat Bestand vor Gott. Seinen Namen führt ihr im Mund, auf ihn beruft ihr euch, aber die Taten, die euren Glauben erst glaubwürdig machten, die bleibt ihr schuldig. Dieser klaffende Riss zwischen Herz und Mund, zwischen eurem Reden und Handeln, der reißt euch ins Verderben. Dass ihr das Zeichen der Jordantaufe empfangt, diesen Ausdruck dafür, dass ihr bereit seid, neu anzufangen mit Gott, das hilft euch gar nichts, wenn ihr nicht wirklich euch ändert! Ohne wahre Umkehr muss und wird euch die Begegnung mit Gott zur Vernichtung werden. – Und dann folgt aus Johannes´ Mund die Kaskade der glühenden Drohworte, die die ganze Dringlichkeit und das Gewicht dessen versinnbilden, was auf dem Spiele steht: die Axt an der Wurzel der Bäume, das Umgehauenwerden, die Worfschaufel, von der die Spreu davonfliegt, um im nie erlöschenden Feuer verbrannt zu werden. – Muss da einem Christen, wenn er ehrlich und unverstellt sein bisher gelebtes Leben erwägt, nicht doch bange werden, wenn selber der Prophet der Heiligen Schrift, wenn der Größte je von einer Frau Geborene, wie der Herr ihn einmal nennt, – wenn nicht einmal der anders vom Gericht zu reden vermag als in angsterregenden Vernichtungstiraden?

Ja, doch: es ist wirklich so! Jeder von uns muss Sorge haben, von Gott gewogen zu werden. Denn keiner von uns könnte behaupten, sein Leben  wäre von Zweideutigkeit selbst in den tiefsten Gefühlen und von schäbiger Eigensucht sogar hinter den Gesten der Liebe noch unberührt geblieben. Daher stammt der tiefe Ernst, der um unser Dasein ist. Doch ohne diesen Ernst preiszugeben, sucht uns das Evangelium damit vertraut zu machen, dass das Gericht ganz, ganz anders geschieht als selbst der große Johannes es sich einzig hat vorstellen können und darum hat predigen müssen. Denn: der Täufer hat ja nicht irgendeinen Feuerrichter angekündigt für irgendwann, sondern einen ganz bestimmten, der jetzt, unmittelbar nach ihm kommt: Jesus von Nazaret. Er soll der Richter von Welt und Geschichte sein, und so bekennen wir Christen ihn. Doch als er auftritt, lässt Johannes irritiert anfragen, ob er der Erwartete sei oder ob noch ein anderer komme. Denn wie richtet Jesus? Er richtet durch seine Menschlichkeit. Obwohl er nicht mit der Axt niedermäht, nicht die Worfschaufel schwingt, nicht im Feuer verbrennt, so fällt noch unser durchschnittliches menschliches Leben vor ihm wie ein morscher Stamm zusammen, fliegen unsere Leistungen, unser Stolz, unser selbstverschafftes Ansehen wie Spreu ins Feuer wenn sie in das Kraftfeld auch nur seiner bloßen Gegenwart geraten, d.h. unter das Richtmaß seiner Weise, ganz von Gott her und in eins damit ganz aus sich Mensch zu sein. Wie er zu den Menschen ist, gerade den Angeschlagenen, was er von Gott zu sagen weiß, wie er selbst sich versteht in seiner absichtslosen Demut, das genügt, um alles Vorgemachte und Aufgesetzte unseres Daseins zu entlarven und die dunklen Stellen bis zum Grunde aufzudecken.

Richten durch Menschlichkeit: das ist genau das, was Reiner Kunze vorhin in jener Begebenheit mit seinem Großvater erfahren hatte. Der kleine Bub hatte die Kuh mit dem Stock geschlagen und ihr wehgetan. Der Großvater hat das Kind dafür nicht geohrfeigt, nicht gescholten, nicht einmal mit Ignoranz bestraft. „Du mußt mit ihr reden“, sagte er stattdessen zu seinem Enkel. Und diese sanften, gleichsam mit dem geschlagenen Tier mitfühlenden Worte dieses gütigen Gottsuchers, ließen dem Jungen sein Vergehen auf der Seele brennen – unvergesslich, weil nicht ungeschehen zu machen, aber eingeborgen in die Menschlichkeit, die in allem Vergehen immer noch etwas von einer großen Vergebung aller Schuld ahnend erhoffen lässt. Es gibt kein brennendes Gericht für uns als unser eigenes Gewissen, das nicht die Drohung, sondern die Güte eines anderen geweckt hat. Und so – genau so – richtet uns alle der, von dem Johannes eben um der Art seines Richtens willen sehr zurecht sagt, er sei nicht wert, ihm die Sandalen auszuziehen – Jesus, der Herr. Gott richtet durch sein Menschwerden in ihm.

IV
Jetzt verstehen Sie auch, warum wir Christinnen und Christen ausgerechnet in den letzten Wochen des Kirchenjahres bei der Eucharistiefeier die Gerichtsreden der Evangelien hören und dann in der Adventszeit so sehr auf den Gerichtspropheten Johannes den Täufer schauen: Wir können die Botschaft von dem richtenden Advent des Herrn in unserm Leben, die Botschaft von seiner Wiederkunft allererst dann ertragen und annehmen, wenn sie uns im Licht der Botschaft von seinem ersten, schon geschehenen Advent begegnet. Nur Güte richtet ja bis zum Grunde – wie in Kunzes Erinnerung. Wie anders aber vermöchten wir eine Ahnung von der grenzenlosen Güte Gottes erlangen als wenn wir auf das arglose und ohnmächtige Krippenkind von Betlehem schauen, in dem Gott uns begegnen will. Und wo anders vermöchten wir ein wahrhaft gültiges Richtmaß für unser Menschsein zu entdecken als im Leben dessen, der mit allen Fasern seines Daseins, in seinem Reden und Tun genau so war, wie Gott ist – sein Gleichnis, so dass sich Gott in ihm uns auf menschliche Weise zu zeigen vermag? So seltsam es klingt: unser Gericht beginnt immer in der Heiligen Nacht. Aber gerade weil es in ihr beginnt, müssen wir trotz unseres Versagens das Gericht weder leugnen noch krank werden aus Angst vor ihm. Denn in seinem Feuer noch dürfen wir Gottes Güte wie einen schützenden Engel um uns walten glauben. Darum rufen wir in diesen adventlichen Tagen: Maran atha – Komm, Herr Jesus. Wie jetzt.