Richtig fragen

28. So B: Mk 10,17-27

I
Über den islamischen Weisen Halladsch erzählt man folgende Begebenheit: Eines Tages fragte ihn ein Mann: Was ist Liebe? – Halladsch antwortete: Du wirst es heute sehen und morgen und übermorgen. – Am gleichen Tag wurde der Fragesteller getötet, am nächsten Tag verbrannten sie ihn, und am dritten Tag streuten sie seine Asche in den Wind.

II
Jahrelang konnte ich mit dieser seltsamen Geschichte nichts anfangen. Bis mir aufging, dass da – wie in einen Rätselspruch verhüllt – genau von dem die Rede ist, was uns Jesus im heutigen Evangelium ans Herz legt.

III
Ganz ähnlich wie Halladsch wird auch Jesus eine wichtige Frage gestellt: Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? – Das meint soviel wie: Wie wird mein Leben gültig, so endgültig, dass es einmal sogar vor dem heiligen und einzigen Gott bestehen kann? Jesus verweist den Fragesteller auf die Gebote vom Berg Sinai, die Zeilen der Bibel, die bis heute selbst noch die kennen, die sich ansonsten allem Kirchlichen fernhalten. Jesus will mit diesem Hinweis sagen: Keiner, der sein Leben nicht unter dieses Grundmaß stellt, das aus der Hinwendung Gottes zu seinem Volk hervorgegangen ist, kann seinem Leben das Schwergewicht des Gültigen und Wahren geben, nach dem er sich mehr als nach allem anderen sehnt.

Doch der Fragesteller fährt fort: Meister, alle diese Gebote habe ich von Jugend auf befolgt. – Also: Kann ich noch mehr tun für die Ewigkeit?, will er wissen. Nur ein wirklicher Gottessucher kann so fragen. Und wie könnte es anders sein, als dass Jesus diese Nähe des anderen zu sich selber, zu dem, was ihn umtreibt, spürt – diese Wesensverwandtschaft der Gottsucherschaft im Tiefsten. Er liebte ihn, sagt das Evangelium dafür. Und dann weist er ihn ein in das Geheimnis der innigsten Gottsuche, das er selber kannte und lebte wie kein anderer und das auch nur der begreifen kann, der zumindest darum weiß, wie wenig der Mensch mit dem Halten von Geboten Gott etwas zu schenken vermag. Klar auch, warum: Geht es doch in den Geboten nicht um Dinge, die Gott für sich von den Menschen fordert, sondern genau umgekehrt um das, was dem Menschen unbedingt nottut, um mit sich und dem Leben zurecht zu kommen. Das andere, das Darüberhinaus, das Gott selber meint, das umschreibt Jesus ganz nüchtern mit den Worten: Eines fehlt dir noch: Geh, verkaufe, was du hast, gib das Geld den Armen, und du wirst einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach!

Die Reaktion des Mannes: Er ging traurig weg, denn er hatte ein großes Vermögen, erzählt das Evangelium. Er ist nicht traurig aus Geiz oder Habsucht. Denn wäre er das gewesen, hätte er gar nicht so inständig nach dem ewigen Leben gefragt. Traurig geht er deshalb weg, weil er in seiner Feinfühligkeit für das Wesentliche schlagartig aus Jesu Wort erkennt, dass er mit seiner ganzen bisherigen frommen Gottsuche im Grunde auf dem Holzweg war. Immer nur eine einzige Frage hatte er sich gestellt: Was muss ich tun? Was noch gewinnen an Verdiensten? Und Jesus antwortet ihm: Nichts musst du tun; sondern lassen musst du alles, was du hast, alles, worauf du menschlich vertraust. Dann fängst du an, ein geistlicher Mensch zu sein. Also: Nicht „Was muss ich tun?“ ist die christliche Frage, sondern „Was muss ich lassen?“. Das ist Grundformel gelebter Nachfolge.

IV
Einer, der eben dies in kaum zu überbietender Radikalität und auch Genauigkeit ins Wort zu bringen vermochte, war der Dominikaner-Philosoph und Mystiker Meister Eckhart. In seiner Predigt mit dem Titel „Beati pauperes“ (Selig die Armen) betont Eckhart ausdrücklich, dass bereits äußere Armut ein geistliches Gut sei für den, der sie aus Liebe zu Jesus auf sich nehme, weil dieser selbst auf Erden arm gewesen sei. Aber Eckhart geht es noch um eine andere, eine radikalere, eine innere Armut:
„Das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts weiß und nichts hat.“
[Alle Zitate aus Meister Eckhart: Predigten. Deutsche Werke II, 493 ff.].

Der Sinn dessen, was Eckhart dabei im Blick hat, lässt sich wohl am eindrücklichsten am Fall des Nichts-Wollens erheben. Nichts zu wollen, heißt für ihn in keiner Weise, jemand solle seinen Willen aufgeben und – etwa erkennbar an Bußübungen – Gottes Willen erfüllen. In unverhohlener Ironie fügt Eckhart an, wer so denke, sei ob seiner guten Meinung zu loben, und Gott möge ihm dafür das Himmelreich schenken. Aber vom Armsein wüsste er nichts – so wenig, dass der Meister ihn wörtlich als „Esel“ bezeichnet, der nichts von der göttlichen Wahrheit verstünde.

Was aber macht den wirklich Armen aus? Eckharts Antwort:
„Solange der Mensch dies noch [an sich] hat, dass es sein Wille ist, den allerliebsten Willen Gottes erfüllen zu wollen, so hat ein solcher Mensch nicht die Armut, von der wir sprechen wollen; denn dieser Mensch hat einen Willen, mit dem er dem Willen Gottes genügen will, und das ist nicht rechte Armut. Denn, soll der Mensch wahrhaft Armut haben, so muss er seines geschaffenen Willens so ledig sein, wie er’s war, als er nicht war. Denn ich sage euch bei der ewigen Wahrheit: solange ihr den ewigen Willen habt, den Willen Gottes zu erfüllen, und Verlangen habt nach der Ewigkeit und nach Gott, solange seid ihr nicht arm; denn nur das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts begehrt.“
Wirklich arm ist also erst der, der nicht einmal den Willen Gottes erfüllen will, weil ebendies immer noch heißt, einen eigenen Willen – und zwar einen ausgesprochen markanten – zu haben. Wirklich arm sein heißt: in einen Zustand zu gelangen wie demjenigen vor meinem geschöpflichen Dasein. Da habe ich – so Eckhart – nämlich keinen Gott gehabt und nichts begehrt und war einzig und allein bei mir: ich war, was ich wollte, und ich wollte, was ich war, bloß allen Strebens nach Dingen und auch nach Gott. Erst als Geschaffener – nachdem ich aus dem Entschluss des Schöpfers hervorgegangen war – hatte ich einen Gott, einen im Übrigen, den Eckhart bezeichnenderweise mit Anführungszeichen schreibt – „Gott“, um damit auszudrücken, dass der, der als Schöpfer mit seinem Willen Gegenstand meines Willens wird, eigentlich gar nicht mehr so ist, wie dieser in sich selbst ist. Daraus folgert Eckhart:
„Nun sagen wir, dass Gott, soweit er [lediglich] ‘Gott’ ist, nicht das höchste Ziel der Kreatur ist; denn so hohen Seinsrang hat [auch] die geringste Kreatur in Gott. Und wäre es so, dass eine Fliege Vernunft hätte und auf dem Wege der Vernunft den Abgrund göttlichen Seins, aus dem sie gekommen ist, zu suchen vermöchte, so würden wir sagen, dass Gott mit alledem, was er als ’Gott’ ist, nicht [einmal] dieser Fliege Erfüllung und Genügen zu schaffen vermöchte. Darum bitten wir Gott, dass wir ‘Gottes’ ledig werden und dass wir die Wahrheit dort erfassen und ewiglich genießen, wo die obersten Engel und die Fliege und die Seele gleich sind, dort, wo ich stand und wollte, was ich war, und war, was ich wollte... Und in dieser Weise ist der Mensch arm, der nichts will.“

Nur in diesem äußersten Arm-geworden-sein des Menschen, das darin besteht, dass er nicht mehr will und weiß und hat, tut er sich für das Wirken Gottes auf. Der Mensch darf Gott nicht einmal mehr eine Stätte für dieses Wirken bieten, denn das wäre noch nicht wirkliche Armut; er muss von allem - aller Dinge, seiner selbst und auch Gottes – so leer sein, dass Gott selbst die Stätte ist, in der er wirken will:
„Denn, findet Gott den Menschen so arm, so wirkt Gott sein eigenes Werk und der Mensch erleidet Gott so in sich, und Gott ist eine eigene Stätte seiner Werke angesichts der Tatsache, daß Gott einer ist, der in sich selbst wirkt. Allhier in dieser Armut, erlangt der Mensch das ewige Sein [wieder], das er gewesen ist und das er jetzt ist und das er ewig bleiben wird.“

Anders gesagt: Im radikalen Arm-werden, also Sich-lassen des Menschen wird Gott mit diesem eins. Und dieses radikale Sich-lassen hat die Form strengsten Bei-sich-seins des Menschen. Im Vollzug von sich lassendem Bei-sich-sein vergegenwärtigt sich Gott in seinem Wirken; beide sind eins. Das ist nicht einfach meine etwaig modernistische Interpretation, sondern steht beim Meister selbst so zu lesen:
„Als ich aus Gott floss, da sprachen alle Dinge: Gott ist; dies aber kann mich nicht selig machen, denn hierbei erkenne ich mich als Kreatur. In dem Durchbrechen aber, wo ich ledig stehe meines eigenen Willens und des Willens Gottes und aller seiner Werke und Gottes selber, da bin ich über allen Kreaturen und bin weder ‘Gott’ noch Kreatur, bin vielmehr, was ich war und was ich bleiben werde jetzt und immerfort. Da empfange ich einen Aufschwung, der mich bringen soll über alle Engel. In diesem Aufschwung empfange ich so großen Reichtum, daß Gott mir nicht genug sein kann mit allem dem, was er als ‘Gott’ ist, und mit allen seinen göttlichen Werken; denn mir wird in diesem Durchbrechen zuteil, dass ich und Gott eins sind.“

V
Wer Christ und Christin werden und sein will, kommt nicht darum herum, sich mit dieser Armut vertraut zu machen, oder er und sie wird nie Christ/Christin sein. Sonst könnte passieren, dass einer die Hände voll hat mit lauter frommen Werken und Opfern und gut gemeinten Leistungen und doch unendlich weit vom Evangelium entfernt ist. Wer volle Hände hat, der kann nichts mehr annehmen, wenn einer ihm etwas schenken will, am allerwenigsten das Unvorhergesehene, das von oben kommt und das wir Gnade nennen.

Die Kehrseite dieser Wahrheit freilich hat etwas geradezu Revolutionäres an sich. Denn die heißt: Wer Jesus nachfolgen, also Christ und Christin werden will, braucht dazu nichts mitzubringen außer der Bereitschaft, Christ und Christin zu werden. Ich muss mir den Zugang nicht erbetteln, nicht verdienen, muss keine Voraussetzungen dafür schaffen. Denn nicht einmal das Beste, was Menschen zu tun vermögen, taugt dafür. Selbstverständlich ist es gut, Gebote zu halten. Und diese sind unabdingbar dafür, dass Menschen menschlich miteinander umgehen. Aber vor Gott geht es um unvergleichlich mehr – um ihn selbst. Dafür muss Raum sein.

Zu allen Zeiten gab es Menschen, die das ernst nahmen, und darum zum äußeren Zeichen dieser Überzeugung auf alles verzichteten, was sie besaßen. Das Innere dahinter war und ist freilich das Entscheidende – das Bekenntnis: Gott ist mir wichtiger als alles andere. Wer so denkt, fragt nicht mehr danach, was er tun muss, was er davon hat und wie es sich anfühlt. Es ist, was es ist. Ablegen kann dieses Bekenntnis jede und jeder, egal wann, egal wo. Christsein ohne dieses Gott Gott-sein-lassen gibt es nicht.