Sprechende Leerstellen
Osternacht C: [Systematisch – zu 2 Kor 5,20]
I
Jetzt halten wir Osternacht. Für glaubende Christinnen und Christen ist das die Hoch-Zeit des Jahres. Das zeigt sich unter anderem daran, dass wir in diesen Stunden die ganze Bibel lesen, zumindest symbolisch. Sieben Lesungen aus dem Alten Testament haben wir vorhin gehört:
Zuerst die Schöpfungsgeschichte – wie alles begann – mit dem sechsmaligen „Und er sah, dass es gut war.“ Und der Ruhe am siebten Tag. Dann die wunderbare Erzählung von der Bindung Isaaks, wie es in der jüdischen Tradition heißt. Da wird – in christlicher Perspektive – schon von Ferne vorgezeichnet, was einst auf Kalvaria geschehen soll. Danach dann die Geschichte vom Durchzug durch das Rote Meer – für die christliche Leserschaft von später ein Vorausbild der Taufe. Dann zweimal der Prophet Jesaja: Geschichten, höchst existentiell, würde man heute dafür sagen: Niedergeschrieben in der Zeit des baylonischen Exils, Vergewisserungen, dass Gott zu seinem Volk steht und immer stehen wird, und sieht es auch noch so gegenteilig aus. Sein Wort, seine Zusage, dass alles einmal gut wird, steht – so sicher, wie der Regen, der einmal gefallen ist, die Erde tränkt und die Saat wachsen lässt. Dann die wunderschönen Verse aus dem Buch Baruch. Weisheitsworte: Froh leuchten die Sterne an ihren Orten. Ruft er sie, dann antworten sie: Hier sind wir. Und genauso natürlich wir Menschenkinder. So schön, dass es uns gibt, weil er, der Geber alles Guten, gewollt hat, dass wir seien: Ich will, dass du bist, heißt ja nichts anderes als „Ich liebe Dich“, hat Augustinus in seinem Kommentar zu den Johannesbriefen einmal geschrieben. Und schließlich die Lesung aus dem Propheten Ezechiel, die uns das Geschenk eines neuen Herzens verheißt, ein Herz aus Fleisch statt des steinernen. Da muss ich immer an die für mich schönste Kirche der Welt denken: den Dom von Orvieto. Gebaut als ein wunderbares Reliquiar um ein Hostieenwunder herum, im Jahr 1288 begonnen. Da hat dann der Maler Signorelli in einer Seitenkapelle auf unglaubliche Weise ins Bild gesetzt, wie sich Totengerippe wieder mit Fleisch bekleiden, wie Totes wieder lebendig wird, diese Ezechielerzählung, die der Geschichte von den neuen Herzen unmittelbar vorausgeht. Aber was hält eigentlich all diese Geschichten zusammen? Was ist ihre Mitte?
II
Das ist gar nicht so einfach zu sagen – und dennoch im buchstäblichen Sinn zentral. Es ist grade so ähnlich wie bei Franz Kafka. Am 16. März 1913 schreibt er seiner Verlobten, der geliebten Felice, ob sie denn an Ostern Zeit hätte für ihn. Die postwendende Antwort lautet: Ja. Und dann geht das klassische Kafka-Theater los, ob ja oder doch nicht und vielleicht schon, aber eigentlich vielleicht nicht usw. usw. Aber dann - in Gottes Namen packt er´s und fährt nach Berlin, in der Karsamstagsnacht. Also grade jetzt um diese Stunde. Jedoch: Osternacht am Anhalter Bahnhof. Er hatte gehofft, seine Felice am Gleis zu sehen, dass sie Auferstehung feiern, Neuanfang ihrer Beziehung. Aber: Nichts. Sie ist nicht da. Er geht ins Hotel. Findet keinen Schlaf. Im Morgengrauen springt er auf, rasiert sich, macht sich fertig. Endlich meldet sie Felice. Sie fahren in den Grunewald, sitzen einfach nebeneinander auf einem gefällten Baumstamm. Tage später schreibt ihr Kafka: „Weißt Du, dass Du mir jetzt nach meiner Rückkehr ein unbegreiflicheres Wunder bist als jemals?“
III
Das war ein Osterwunder für ihn, dass sie sich doch noch sehen konnten. Was von außen wie eine Leerstelle aussieht, dieses scheinbar triviale Treffen und Zusammensein, hätte nicht dichter, nicht gefüllter sei können, Stunden einzigartigen Glücks, obwohl ausgerechnet darüber – aber vielleicht grade deswegen, sein Tagebuch schweigt.
So etwa Ähnliches gibt es auch in der Bibel. Eine Stelle, die im Grunde alles zusammenhält, aber für sich genommen gar nicht auffällt. Darum hören wir sie auch nie in den Lesungen der Gottesdienste. Dafür ist sie im Grunde zu prosaisch, vielleicht muss ich sagen: einfach zu langweilig. Es ist – nimmt man den buchstäblichen Wortlaut – eine Opfervorschrift. Aber der Ort, wo die Verse stehen! Daran hängt es.
IV
Seit eh und je gelten die ersten fünf Bücher der Bibel als etwas Besonderes. In der Tradition der protestantischen Kirchen heißen sie bis heute die „Fünf Bücher Moses’“, zugeschrieben also der alttestamentlichen Überfigur, an der das ganze Selbstverständnis des Judentums bis heute hängt. Natürlich hat Mose diese fünf Bücher nicht geschrieben – die Genesis, den Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium. Schon seit Jahrhunderten weiß man, dass da ganze Generationen von Theologen als Autoren dahinter stehen. Aber gerade diese Gottesdichter und -denker haben auch auf den Seiten dieser Bücher Spuren gelegt, die auf wunderbare Weise verraten, worauf es ankommt. Genau das haben sie auch mit dem Gesamt der fünf Bücher Mosis gemacht. Wenn Sie die nehmen und genau die Mitte suchen, dann landen Sie exakt auf Levitikus, Kapitel 17. Und dort wird nichts anderes als der große Ritus der Versöhnung beschrieben.
Also: Versöhnung ist die Mitte. Die Mitte, auf die alles zuläuft: Das ganze Ringen seit Abraham um das rechte Bild von Gott. Das Mose-Abenteuer mit dem Auszug. Die Gottesbegegnung auf dem Horeb samt der unglaublichen Namensbekundung. Und dann das Zehn-Gebote-Gesetz, zweimal mitgeteilt. Aber immer alles zentriert auf Levitkus 17: Die Versöhnung.
V
Schon für die alttestamentlichen Theologen hieß also die Parole: Lasst euch mit Gott versöhnen. Die Neutestamentlichen mussten das im Grunde nur wiederholen. Klar auch: Das ganze Neue Testament ist nichts Anderes als ein Kommentar – zwar der erste und wichtigste – aber eben ein Kommentar zum Alten Testament. Und Paulus, der älteste und radikalste Evangelist hat es dann auch ins Wort gebracht: Wir bitten an Christi statt: Lasst Euch mit Gott versöhnen. Das ist die Kurzformel des Evangeliums. Und das ist die eigentliche Osterbotschaft. Wir, die Predigenden dieser Tage, bitten an Christi statt: Lasst Euch mit Gott versöhnen. Größeres können wir nicht tun. Schöneres auch nicht.