Dem Auferstandenen Obdach geben

Ostermontag B: Lk 24, 13-35

                 
I
Osternacht und Ostermorgen liegen hinter uns. Der Ostermontag hat seit je etwas froh Gelassenes an sich. Menschen, die mit seiner Tradition vertraut sind und sie leben, unternehmen an diesen Tag den Emmausgang, einen frühlingshaften Ausflug, da sie die erwachende Natur genießen, das neue Leben, das da sprießt, und die Kinder freuen der kleinen Geschenke, die sie suchen dürfen.

II
Das ist alles gut, und es hat seine Gründe, dass es das gibt. Aber vor solchem Frohsein liegt über dem Ostermontag noch ein anderer Ton, ein durch und durch melancholischer, wenn man genau in die Verse des Evangeliums hineinhört. Die österreichische Arme-Leute-Dichterin Christine Lavant brachte es auf den Punkt, als sie schrieb:
In uns allen hat er vielleicht noch nichts,
worauf er auch nur eine einzige Nacht
das Haupt seiner Leiden einschläfern könnte
und das brennende Herz sich bewahren.

In uns allen leidet das eigene Haupt,
in uns allen lauert das eigene Herz,
und wir schläfern diebisch mit seinem Namen
in bitteren Nächten uns ein.

Wir schleifen ihn mit bis zum Höllenrand,
wir geben ihn auf im Vorhof der Liebe,
und später – zu spät! – mit versteintem Herzen
bieten wir ihm uns als Obdach an.

III
Da sind zwei der Seinen unterwegs nach Emmaus, vermutlich ihr Zuhause. Sie lassen noch einmal in Worten Revue passieren, was die letzten Tage gewesen ist, vom Gründonnerstag Abend bis zum Karsamstag. Und auch das Zeugnis der Frauen vom Ostermorgen. Anfangen können sie mit all dem nichts. Daran ändert zunächst auch der seltsame Fremde nichts, der sich ihnen zugesellt und sie darüber belehrt, dass sie all das, was ihnen jetzt wie ein Rätsel vorkommt, auf Strich und Komma im Buch ihres Glaubens entschlüsselt finden können. Sie haben nicht – noch nicht – den Blick dafür. Den Blick für das Wesentliche und darum Wahre.

III
Diesen Blick zu gewinnen, ist nicht so leicht. Sie haben zuerst ihre Gedanken bei dem, was eben geschehen war – und begreifen nichts. Dann lenkt sie der Fremde von unterwegs auf die Worte der Heiligen Schrift. Und sie begreifen immer noch nicht. Doch hätte da bei ihnen eigentlich schon der Groschen fallen müssen. Ausgehend von Mose und den Propheten legt er ihnen den Sinn des Schicksals Jesu aus – will sagen: Er macht ihnen klar, dass, wer den Gottesgeschichten von der ersten Seiten der Bibel an auch nur einen Funken Glaubwürdigkeit zutraut, diesen Jesus nicht für tot halten kann. Da ist doch schon im Buch Genesis von einem Gott die Rede, der selbst denen fürsorglich zugetan bleibt, die sich von ihm abgewandt haben: Denken Sie an die Szene, wie der Schöpfer Adam und Eva Röcke aus Fellen macht, nachdem sie den Schutz der Gottgeborgenheit durch ihr Misstrauen verloren hatten und sich darum aus dem Paradies vertrieben erfuhren. Oder wie Gott selbst den Mörder Kain durch das Mal, das er ihm auf die Stirn zeichnet, davor schützt, das gleiche Schicksal zu erleiden, das der seinem Bruder angetan hatte. Oder die Rettung der Noachsippe über die Flut hinweg. Und dann das durch nichts zu enttäuschende Ringen dieses Gottes um sein Volk angefangen von Abraham, und nicht zu beirren durch das Murren auf dem Weg ins gelobte Land heraus aus der ägyptischen Knechtschaft, nicht zu beirren durch das goldene Kalb, später durch die politischen Kungeleien, die ins babylonische Exil mündeten, nicht zu beirren durch das immer wieder von den Propheten angeklagte Schuldigbleiben der Barmherzigkeit gerade den Kleinen und Schwachen gegenüber, in der sich nichts anderes als Untreue gegenüber dem Gott kundtut, der das kleine Israel nie vergessen hat. Und der Gott, der so ist, wird den hängenlassen, der sich ihm mit Leib und Leben so verschrieben hat, wie dieser Jesus das tat? Das ist das Zeugnis der Schrift. Und dass der, der an diesen Gott unbeirrt erinnert, als Störenfried empfunden und entsprechend behandelt werden wird bis zu seiner schieren Vernichtung – das ist auch schon Zeugnis der Schrift an den Stellen, an denen der Prophet Jesaja vom leidenden Gottesknecht redet. Das aber ist ein Zeugnis, das das erste Zeugnis nicht widerlegt, sondern bestätigt: Am Gerechten, der für seine Botschaft von diesem Gott sein Leben lässt, wird offenbar werden, dass Gott wirklich so ist, wie die ganze Schrift sagt: Eben der Treue, dem nicht einmal der Tod Paroli bieten kann. Darum musste der, der wie kein anderer zuvor unter Menschen für diesen Gott stand und sein Gleichnis war, erleiden, was er erlitt, um in seine Herrlichkeit zu gelangen, wie das Evangelium sagt – die Herrlichkeit, die darin besteht, dass an ihm, an seinem Schicksal, eben diese Unbedingtheit der Treue Gottes offenbar wird, die genau darin besteht, dass sie sich als mächtiger erweist als das Unbedingteste in der Welt, also der Tod.

V
Aber die Emmaus-Jünger: nichts begriffen. Wie blind sind sie für die Logik dieser Geschichte Gottes mit den Menschen, die doch so punktgenau darauf hinausläuft, dass – wenn es den Gott, von dem da die Rede ist, wirklich gibt –, dass dann alles, nicht nur das Leben, sondern auch das Sterben ein Vorletztes ist, und ihm, diesem Gott das letzte Wort bleibt und darum der, der so untrennbar zu ihm gehört wie dieser Jesus gar nicht tot sein kann. Dennoch: Mit allem vertraut. Buchstäblich Auge in Auge mit der Wahrheit. Und doch nichts begriffen. Alles eingeschläfert, um es in Anlehnung an die Lavant zu sagen. Sogar noch das brennende Herz.

VI
Und dann die Szene in der Bleibe unterwegs. Er bricht das Brot. Da gehen ihnen die Augen auf – und im gleichen Augenblick sahen sie ihn nicht mehr. Die Szene ist so dicht, dass man sie Zug und Zug entfalten muss. Klar natürlich, dass das Erkennungszeichen, das Brotbrechen auf das Abendmahl anspielt. Und Abendmahl ist nichts anderes als das Inbild dessen, was Liebe meint – so sehr, dass ausgerechnet Johannes, der sozusagen Theologischste der vier Evangelisten, auf die Einsetzungsszene mit dem Brot- und dem Kelchwort verzichtet und stattdessen nur die Fußwaschung erzählt. Was heißt „nur“! Die Fußwaschung, das Füreinander-Dienst-tun – ist ja die Mitte, die Substanz der Eucharistie – Liebe eben. Und jedes Feiern dieser Eucharistie, der Messe, ist Erinnerung, Verlebendigung, Vergegenwärtigung dessen, auf dass die Liebe wirklich werde und stark.

Unser Emmausevangelium bindet darum die Erfahrung der selbst den Tod besiegenden Treue Gottes – also Ostern – an das Tun der Liebe und sagt damit: Wo Menschen füreinander da sind bis zum niedersten Dienst, werden sie einander zum Gleichnis der Unvergänglichkeit, die aus Gottes Treue kommt. Wo geliebt wird, geschieht Österliches. Dass die Emmausjünger in dem Augenblick, da sie in dem Unbekannten den Auferstandenen erkannten, ihn nicht mehr sahen, bringt genau dieses Gleichnishafte zum Ausdruck. Man kann Ostern so wenig festhalten wie Liebe. Und doch ist es so wirklich, wie diese – die Liebe – wirklich ist. Getane Liebe weiß darum, dass Ostern wahr ist. Gerade so, wie es der französische Philosophie Gabriel Marcel nach dem Tod seiner Frau ins Tagebuch schrieb: Jemanden lieben heißt ihm sagen: Du wirst nicht sterben. Jedes Mal, wenn wir Messe feiern, vergewissern wir uns dieser Wahrheit. Meist tun wir das zu spät – mit versteintem Herzen, sagt Christine Lavant. Aber wer weiß: Vielleicht fängt ein Herz zu brennen an, wenn es – wie jetzt – von Ostern hört.