Das achte Sendschreiben
4. Ostersonntag B: Joh 10,11-18 + Offb 2-3 pass. [zugewählt]
I
Der Kapuzinerpater Walbert Bühlmann, ein Pionier der Missionstheologie des 20. Jahrhunderts, machte keinen Hehl aus seinem Zorn und auch aus seiner Trauer über den Vormarsch der Ewiggestrigen in der Kirche, wie er ihn gegen Ende seines Lebens etwa um die letzte Jahrtausendwende erlebte. In diesem Zusammenhang gestand Bühlmann, was ihm selbst während seines Lebens die wichtigste Richtschnur war: dass das ältestes Bildnis Jesu aus dem dritten Jahrhundert nicht den Herrscher, den Pantokrator und Imperator zeigt, sondern den guten Hirten – übrigens in Aufnahme eines ikonischen Motivs aus der, christlich gesehen, heidnischen, nämlich griechischen Religion: Der uralte Gott Hermes, der Gott des Kommens und Gehens, des Geborenwerdens und Sterbens, des Handels und Wandels, des Übersetzens und Verstehens, des Hin und Her zwischen Göttern und Menschen, Himmel und Erde wurde gern mit einem Lamm auf den Schultern dargestellt. Und die frühen Gemeinden haben dieses Bild gleichsam getauft, weil sie überzeugt waren, dass all das, was diesem Hermes in Mythen zugeschrieben wurde, in Christus seine Wirklichkeit gefunden hat: In ihm, diesem behütenden, behutsamen Mittler zwischen Gott und Mensch.
Dieses Gespür der frühen Kirche für das Wesentliche hat sich wenigstens in Resten bis heute darin erhalten, dass wir jährlich am vierten Ostersonntag besonders des Guten Hirten gedenken in der glaubenden Hoffnung, dass er auch uns als seine Gemeinde hütet und ihr auf dem rechten Weg zu bleiben hilft.
II
Leider beschränkt sich dieses Gedenken an den Guten Hirten nicht selten auf ein Lamento über mangelnden Nachwuchs bei Priestern und Ordensleuten, auf eine diesbezügliche Schuldzuweisung an die ach so gottlose Welt, und eine Fürbitte, die um Abstellung dieser Misslichkeit ersucht. Aber zwei Dinge sind damit bereits unterschlagen: einmal die wahre Ursache des katastrophalen Priestermangels. Dass von den weltweit rund 300 000 katholischen Gemeinden, die sonntäglich zur Eucharistie zusammengerufen werden, nur weniger als die Hälfte einen Gemeindepfarrer hat und so Eucharistie feiern kann, gründet nämlich entscheidend darin, dass seit etlicher Zeit eine Gruppe von Hirten weniger ans Hüten, sondern mehr ans Herrschen denkt, darum stur alte Strukturen zu zementieren sucht und sich weigert, über etwaige alternative Zugänge zum geistlichen Amt oder Formen der Gemeindeleitung auch nur nachzudenken. Das ist das eine. Und das andere, was gern unterschlagen wird: Das Hüten, also Verantwortung tragen ist keineswegs nur Aufgabe der Bischöfe und Priester, sondern sehr wohl auch von Frauen und Männern, die sich zusammen mit ihren Seelsorgern Glauben und Leben ihrer Gemeinde angelegen sein lassen. Gegen die erste Unterschlagung lässt sich nur unbeirrt von Denkverboten Protest erheben. Die zweite lässt sich durch Selber-Handeln beseitigen.
III
Wenn eine Gemeinde in diesem Sinne die Dinge in die Hand nimmt, muss sie keineswegs ins Blinde handeln. Sie findet vielmehr im Neuen Testament unmittelbar Handlungsanleitungen, wie sie konkreter nicht sein könnten – und zwar ausgerechnet in einer der schwierigsten Schriften dieser Gründungsbroschüre der Kirche: in deren letztem Buch nämlich, der Apokalypse, also der Geheimen Offenbarung des Johannes. Dort finden sich in den ersten beiden Kapiteln sieben Sendschreiben an damals wirklich existierende Gemeinden in Kleinasien. Der österliche Herr spricht zu den Gemeindeleitern und stellt ihnen unzweideutig vor Augen, wo sich die Gemeinden bewähren, wo sie schwach sind, wo sie sich verfehlen. Wir haben daraus vorhin auch eine Lesung gehört.
Versuchen wir doch einmal all die Urteile, die Mahnungen, die Fragen und auch das Lob aus diesen biblischen Sendschreiben so zu lesen, als wären sie an uns, also an unsere Dominikaner-Gemeinde gerichtet. Aus dieser biblischen Gewissenserforschung heraus – sozusagen aus der Perspektive Jesu, des Guten Hirten, der uns alle hütet und in dessen Namen allein wir auch einander zu hüten haben –, aus dieser Perspektive könnten wir versuchen, ein eigenes Sendschreiben an unsere Gemeinde zu verfassen, in dem das, was uns froh macht, ausgesprochen wird, und nicht nur das, was Anlass zu Kritik und Sorge gibt. In dem Sendschreiben könnte stehen:
IV
So spricht der, von dem Du herkommst, der Deine Mitte und Dein Ziel ist: Ich weiß, dass Du in Vielem verlässlich bist, furchtlos und treu. Zu Dir gehören nicht wenige, die ohne große Worte durch ihr Gebet, ihre Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und auch schlicht durch ihre Freigebigkeit in den vielen Anliegen der Gemeinde wie der Kirche im großen Zeugnis ablegen für mich. Sie brechen für die Freiheit des Denkens und Redens eine Lanze und freuen sich, an diesem Ort eine geistliche Heimat gefunden zu haben. Öfter als man von außen vielleicht sieht, gibst Du meinem Geist Raum, dass er wirken kann. Nicht zuletzt in dem beharrlichen und geduldigen Ringen darum, diese Gemeinde in diesem Gotteshaus überhaupt am Leben zu erhalten.
Aber ich muss Dir auch sagen, dass in manchen Belangen bei Dir an die Stelle der Begeisterung die Routine getreten ist, an die Stelle von Entschiedenheit ein laues „Ja, aber“. Denk‘ nur an manche Stunde, da Glaubensgeschwister, die sich der Gemeinde tief verbunden fühlen, wie selbstverständlich private oder familiäre Begebnisse dem Gottesdienst vorziehen. Natürlich: Immer gibt es tausend und einen Grund, so zu handeln. Und manchmal wird das auch richtig und nötig sein. Aber das Fragen, das Suchen, ja einfach auch das Lernen (Du bist nicht zu alt dafür!) – das alles ist Dir manchmal viel weniger wichtig als gemütliche Stunden. Und wäre es nicht ein Glaubenszeugnis ganz eigener Dignität, wenn Du Deinen Familienangehörigen, die nichts oder nichts mehr mit Glauben am Hut haben, höflich sagtest, Du würdest gern – sagen wir: die Osternacht – mitfeiern, um danach umso präsenter und fröhlicher die familiäre Feier zu begehen?
Ja, was die Begeisterung betrifft und die Routine – denk‘ besonders auch an Deine Gottesdienste! Sie sind immer die unbestechliche Visitenkarte einer Gemeinde! Du bist nicht kalt, gewiss nicht. Aber bist Du heiß? Weder das eine noch das andere zu sein – das Laue – ist vielleicht das Gefährlichste. Daran muss ich jedes Mal denken, wenn ich an meine Schafe in einem anderen Stall, in dem der Moscheen denke: Mitten am Tage, sei es noch so glutheiß, kommen die Menschen zum Freitagsgottesdienst, Ellbogen an Ellbogen, stehen sie bis in die Vorhallen der Moscheen und meist noch auf die Straßen hinaus, legen aus Ehrfurcht ihre Schuhe ab, hören nach dem Ruf des Muezzin eine dreiviertel Stunden lange Predigt, folgen in Gesten des Niederwerfens und der Demut dem Gebet des Imam, hören eine zweite Predigt, beten nochmals, um dann wieder ihrem Alltag nachzugehen. Und zu jeder Tageszeit sitzen Menschen in den Moscheen vor Lesepulten und rezitieren halblaut den Koran, der ja auch mein Wort ist, manchmal genauso beglückend klar, manchmal genauso verstörend rätselhaft wie das Dir vertraute Wort der Bibel, an das Du Dich halt schon lange gewöhnt hast – auch dort, wo es Dich eigentlich aufwühlen müsste.
Und bei Dir? Manchmal sehe ich einige aus Deiner Mitte, die leger, mit übereinander geschlagenen Beinen darauf warten, was denn der Zelebrant heute bieten wird – und ob seine Predigt ihren intellektuellen Ansprüchen genügen kann. Aber darum geht es doch gar nicht (auch wenn jeder Prediger bis ins Mark verpflichtet ist, sein bestes für die Verkündigung meines Wortes zu geben). Es geht doch um Deine Freude an mir und Deine Antwort auf meine Zuneigung zu Dir, die sich im Fest der Heiligen Feier und manchmal seinem Überschwang ausdrücken möchten.
Und da ist noch etwas: Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Du öffnest und lässt mich ein. Aber zusammen mit mir stehen welche draußen, die Du gern übersiehst. Frag Dich ehrlich: Wie stehe ich zu Asylbewerbern, den Obdachlosen und denen, die jetzt als Flüchtlinge kommen? Wie reden wir im kleinen Kreis über sie? Du weißt, dass da manchmal Worte fallen, für die Du Dich bitter schämen musst. Denk doch daran, was letzte und vorletzte Woche passiert ist: zuerst 400 im Mittelmeer ertrunkene Flüchtlinge und in der Nacht auf vergangenen Sonntag 700 oder gar 900 – und längst nicht von allen wissen wir. Das Mittelmeer – ein Massengrab für Menschen, die vor Gewalt, Hunger und Krieg fliehen, um wenigstens einen Hauch menschenwürdigen Lebens zu erhaschen. Und die meisten sogenannten christlichen Länder auf der Nordseite des Meeres stellen sich taub und lassen das völlig überforderte Italien mit der Katastrophe allein. Bleib nicht stumm! Schrei es den Verantwortlichen in deiner Nähe in die Ohren, dass es kein Christsein ohne konkrete Menschlichkeit geben kann. Schrei es auch den Kirchenoberen in die Ohren, wenn Sie sich in humanitär klingende Sprechblasen einlullen und ihre leerstehenden Klöster und Gebäude im Nebel des Geschwätzes zum Verschwinden zu bringen suchen.
Und noch ein Letztes: Wenn Du Leuten begegnest, die etwas falsch machen Deiner und sogar meiner Meinung nach, dann mach sie nicht herunter und zerreiße Dir nicht den Mund über sie. Sondern sei so zu ihnen, wie Du es selber oft genug nötig hast, dass ich zu Dir bin: viel mehr gütig als gerecht! Du weißt ja, dass hinter Deinem Anständigsein oft auch nichts anders steckt als Mangel an Gelegenheit zum Sündigen. Du musst Dich nicht schämen dafür, dass Du versuchbar bist. Aber: Hüte Dich vor der Selbstzufriedenheit. Die ist schrecklich, weil sie Dich in Lügen einspinnt. Du bildest Dir ein, weiß Gott wie lebendig zu sein – und in Wirklichkeit pflegst Du eine tote Fassade. Du sagst: Seht her, wie reich ich bin: Das und das und das gibt es bei uns! Und in Wirklichkeit bist Du bettelarm, weil Du am Wesentlichen vorbeiläufst. Gesteh Dir ein, dass Du arm bist, wie Du Dir immer wieder vieles schuldig bleibst – mir und den Menschen! Aber dieses Eingeständnis macht Dich reich, weil ehrlich und darum feinfühlig für meine Treue, die ich Dir unverbrüchlich halte. Und alles, was ich Dir da sage, gilt den Zelebranten und Predigern bei Dir nicht weniger als denen, die hierher zum Gottesdienst kommen.
V
Darum: Hab‘ keine Angst – auch nicht vor der eigenen Zukunft. Träum‘ Dich nicht zurück in angeblich bessere Zeiten. Schau nach vorn! Lass Dich in Frage stellen – auch in Vielem, was von außen kommt und Dir so fremd erscheint, bin ich am Werk und rede Dich an. Gerade auch in dem, wie es mit Dir weitergehen wird. Vielleicht musst auch Du durch einen Karfreitag hindurch, um zu einem Ostermorgen, einem neuen Anfang zu finden. Stell Dich in allem, was Du tust, immer neu unter mein Wort! Es wird Dich richten im tiefen Sinn des Wortes: Richtung wird es Dir geben und Dich aufrichten, wenn Dich Schweres niederbeugt. Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!