Österlicher Realismus
3. Ostersonntag: Lk 24, 35-48 + Apg 3, 12a. 13-15. 17-19
I
Clodovis Boff, der Bruder des ungleich bekannteren Befreiungstheologen Leonardo Boff, war lange Zeit Pfarrer einer brasilianischen Vorstadtgemeinde. Er erzählt einmal davon, wie eines Tages eine Frau in seine Kirche kam, die er vorher noch nie gesehen hatte. Stumm saß sie während der ganzen Messe in der Bank, ging zur Kommunion, verschwand wieder. Am nächsten Tag das Gleiche. Und auch am dritten Tag. Da ging Boff am Ende der Messe auf sie zu und fragte, ob sie in seine Gemeinde neu zugezogen sei. Die Frau schüttelte den Kopf. Nein, Padre, sagte sie. Ich gehöre nicht hierher, ich weiß auch nicht viel von Gott, von der Bibel und von Jesus und so. Aber seit fast einer Woche hatte ich nur Wasser zu trinken und nichts zu essen. Ich halte es bald nicht mehr aus. Zufällig habe ich gesehen, wie Sie in der Kirche die Kommunion ausgeteilt haben. Da bin ich auch nach vorn gegangen, um zu essen. Sonst wäre ich verhungert.
II
Die Frau hat die Hl. Kommunion empfangen wie ein gewöhnliches Stück Brot. Und trotzdem – ich bin überzeugt, diese Frau hat würdiger kommuniziert als manche Katholiken bei uns und anderswo, die an den Tisch des Herrn treten mit der Überzeugung, sie seien anständig genug gewesen im werktäglichen Leben, um das tun zu dürfen. Diese Frau hat würdig kommuniziert. Sie hat gedacht: Das Brot vom Altar ist heiliges Zeichen dafür, dass Gott ganz für uns da ist, damit wir leben. Wird er da nicht am allermeisten da sein für mich gerade dann, wenn es um mein schieres Überleben geht? So ist sie zur Kommunion gegangen aus Hoffnung und Vertrauen, dadurch am Leben zu bleiben – buchstäblich. Wir gehen zur Kommunion genau aus dem gleichen Grund – aber ob wir je im Leben schon einmal so bis ins Mark hinein gespürt haben, warum wir das tun? Es gibt Augenblicke, da will unser Glaube handfest werden – und wird es auf eine Weise, die geradezu vor den Kopf stoßen mag.
III
Wer das weiß, dem wird es nicht mehr schwer fallen, auch das heutige Evangelium recht zu verstehen – eine Geschichte, die auch Handfestes erzählt, so handfest, dass sie seit je Anstoß zu erregen pflegte, ja selbst Spott und Hohn bei aufgeklärten Zeitgenossen. Es ist die letzte Ostergeschichte des Lukasevangeliums: Mitten in ihrem Zusammensein geht den Jüngern noch einmal auf, dass Jesus mit dem, was er gelebt hat und gewesen ist, in seinem Tod nicht unterging, sondern gerade durch sein in Gottvertrauen ergebenes Sterben ganz und endgültig bezeugt hat, dass der, von dem er sich seiner Lebtag' lang getragen wusste – Gott –, dass der ihn in der Stunde seines Endes erst recht nicht fallen ließ. Darum erzählt das Evangelium, dass den Jüngern in dem Augenblick, da ihnen dies aufgeht, Jesus seinen Frieden zuspricht, d.h.: dass er sie versichert, vor nichts und niemand mehr Angst haben zu müssen.
Die Jünger aber haben dem irgendwie nicht trauen wollen, so aufgeklärt waren auch sie allemal. Zu unwirklich, ja zu gespenstisch wollte ihnen scheinen, dass der Mensch ja sagen kann zu seinen Grenzen und zu seinem Ende sogar, weil auch das noch in Gottes Hand liegt, also sie nicht vernichten wird. Aber der österliche Herr, von dem sie aufgrund seines Lebens und Sterbens wissen, dass er bei Gott – also lebendig – ist, er verwehrt ihnen regelrecht, das österliche Leben, die Auferstehung für etwas Jenseitiges, etwa nur Geistiges zu halten, was nur im Kopf, in Gedanken geschieht: Seht meine Hände und Füße. Ich bin es selbst. Fasst mich doch an, und begreift: Kein Geist hat Fleisch und Knochen, wie ihr es bei mir seht.
Das meint: Der Friede, also die Ruhe des Herzens, als die sich der Auferstandene offenbart – darum sagt er ja: Der Friede sei mit euch, als er erscheint –, dieses Beruhigt werden der Seele hat Hand und Fuß; es ist so unmittelbar wirksam und spürbar, wie Fleisch und Blut wirklich und spürbar sind für uns. Wo Menschen diesem Jesus und dem, wofür er steht, trauen, verlieren sie alle Angst um sich selbst und vor einander, weil sie Gott wieder ganz trauen. Indem sie sich mit Jesus verbünden, ja eine Lebensgemeinschaft bilden, werden sie selbst in das Osterleben hineingezogen – auch wieder handfest und spürbar dadurch, wie sie aus dieser Jesusgemeinschaft heraus miteinander umgehen können. Eben darum erzählt das Evangelium auch die Verbundenheit mit Jesus so handfest wie irgend möglich in dem Sinnbild, das für jeden Juden damals und bis heute Gemeinschaft schlechthin zum Ausdruck bringt, nämlich: miteinander zu essen. Darum hören wir, wie der Auferstandene um etwas zu essen fragt, und die Jünger geben ihm ein Stück gebratenen Fisch. Jesusgemeinschaft in Fleisch und Blut, d.h. im Werktag leben, wie er gelebt hat – das macht Ostern wirklich und wirksam.
IV
Das alles ist kein Mirakel und kein Spektakel, sondern: Die ganze Bibel redet einzig davon, dass Gott für uns ein Leben bereithält, das stärker ist als alles Tote, was es gibt: Trauer, Schuld, das Böse, Leid und auch das Sterben noch, sagt Jesus am Ende unseres Evangeliums. Deswegen verweist der Auferstandene die Jünger auf das Gesetz des Mose, die Propheten und die Psalmen – also auf die ganze Heilige Schrift –, dass sie in ihrem Licht sein Geschick meditieren und darin erkennen, dass sich in ihm die großen Verheißungen Gottes seit je auf einmalige Weise erfüllen.
Das kann man noch besser verstehen, wenn man begleitend zum heutigen Evangelium auch noch einen kurzen Blick auf die heutige erste Lesung aus der Apostelgeschichte wirft. Sie berichtet uns von einer Osterpredigt des Petrus – und da ist der erste Satz spannend. Dabei handelt es sich nämlich um ein Zitat aus einem Streitgespräch, das Jesus zu Lebzeiten mit den Sadduzäern geführt hat, dieser konservativen Richtung seiner Glaubensgenossen, die nicht an eine Auferstehung der Toten glaubten. Auf ihre Ablehnung der Auferstehung antwortet er ihnen:
Dass aber die Toten auferweckt werden, hat auch Mose angedeutet bei der Geschichte vom Dornbusch, wo er den Herrn den Gott Abrahams und Gott Isaaks und Gott Jakobs nennt. Gott aber ist nicht ein Gott von Toten, sondern von Lebenden (Lk 20, 37-38).
Mit Rückgriff auf eine der Spitzengeschichten der Geschichte Israels, die Gottesbegegnung am brennenden Dornbusch, spricht Jesus da buchstäblich so etwas wie eine Gottesdefinition aus, wie neulich zwei evangelische Exegeten fomulierten, übrigens die einzige, die wir im Neuen Testament aus seinem Munde hören. Der verborgene Gott macht sich dem Mose gegenüber dadurch kenntlich, dass er sich die Namen der drei ersten großen Urväter der Glaubens buchstäblich selber einschreibt: Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Und wenn – so Jesu Auslegung der Stelle – Gott, der Lebendige schlechthin, sein Wesen durch diese Namen von Menschen kund tut, dann können diese Menschen ihrerseits nicht tot, sondern müssen sie lebendig sein, obwohl sie schon vor Jahrhunderten gestorben sind.
V
Genau mit dieser Stelle beginnt Petrus seine Osterpredigt. Also: er stellt das Jesus-Geschehen in Beziehung zu eben jener Sternstunde der Glaubensgeschichte Israels, auf die Jesus selber sich im Streit um die Auferstehung berufen hatte. Und er sagt damit – sinngemäß übersetzt in unsere Frage von heute an das Evangelium: Wenn nicht alles Hirngespinst ist, wenn überhaupt etwas daran ist an der Geschichte mit Gott und dieser Gott darum Wirklichkeit ist, dann ist auch, weil er unwiderruflich der Ich-bin-da-für-euch ist und sich sogar buchstäblich durch die Existenz von Menschen definiert, die Welt der Auferstehung wirklich. Wirklich auf eine Weise, die – nach dem Zeugnis aller Ostergeschichten noch dichter ist als das, was wir als unsere alltägliche Wirklichkeit kennen. Und darum kann, wenn es um diese Frage des Wirklichseins von Ostern geht, davon nur so erzählt werden, dass dieses Wirklichsein unüberhörbar zur Sprache kommt. Dass dabei unsere eingespurten Sichtweisen alltäglicher Wirklichkeit durchkreuzt und aufgebrochen werden, darf uns eigentlich gar nicht verwundern. Darum erzählt uns Lukas heute, da es genau um diese Frage geht, von der Begegnung mit dem Auferstandenen so, wie er es tut.
VI
Dieses Leben ist jedem versprochen, der Gott traut. Der, der ihm als erster ganz vertraut hat, Jesus, er in Person öffnet die heiligen Worte, dass wir sie verstehen: verstehen als die aufregende Geschichte vom Vertrauen in den Gott, der zum Lebendigsein weckt. Verstehen aber tut nicht der, der etwas Erzähltes nachbetet, sondern der, der es sich zu Eigen macht, also das Erzählte selber tut – der Gott traut. Ihr seid meine Zeugen, sagt der Herr – auch uns. Auferweckt leben bezeugt, dass Ostern wahr ist. Das wäre unser Auftrag.