Mystagogische Zeichenpredigt - Doppeltor und Echo

1. Fastensonntag C: Lk 4,1 -13 + Lk 9, 28b-36 + Pss 1, 2, 149, 150

I
Heute beginnen wir die Fastenzeit. Das Violett der liturgischen Farbe, die Nüchternheit des Betens und Singens gehören zu ihr. Am Anfang auch das Aschenkreuz, dann der Ruf zu Buße und gutem Werk und die Erinnerung an die Taufe als unseren geistlichen Lebensanfang. Wie sich draußen die Natur bereit zu machen beginnt auf das neue Erwachen dieses Jahres, so tun wir das in Vorbereitung auf die Feier der Osternacht, mit der die neue Schöpfung begann, der wir im Glauben zugehören.

II
Das alles ist schon viel. Aber die Liturgie der Kirche greift noch ungleich tiefer. Wenn wir etwas darauf achten, schenkt sie uns Worte und Winke, die einen ahnen lassen, dass wir im Glauben an ein Geheimnis mit langem Atem rühren. Man muss dafür in der Landschaft der heiligen Zeichen gleichsam wandern, um von dem aufgenommen zu werden, wofür sie stehen.

III
Zu diesen Zeichen gehört auch etwas, das man nur wahrnehmen kann, wenn man ein wenig auf das größere Ganze der Fastenzeit blickt, genauer: auf das, was uns in der Reihe der ersten beiden Fastensonntage im Evangelium verkündet wird. Heute haben wir die Geschichte von der Versuchung Jesu gehört, nächsten Sonntag folgt das Evangelium von der Verklärung. Zwei ganz verschiedene Dinge. Was haben sie miteinander zu tun? Ganz einfach: Beide Evangelien zusammen sind so etwas wie die Ouvertüre der Fasten- und Osterzeit. Sie intonieren, was gespielt werden wird: Die Versuchungsgeschichte erzählt uns, dass Jesus den Kampf mit der Sünde aufnimmt. Und die Verklärungsgeschichte zeigt ihn als strahlenden Sieger und weiß, dass er den Kampf gewinnt – und dass er uns auf diesen Weg mitnimmt. Wir müssen ihn nur mitgehen, auch in der Gründonnerstagnacht, auch am Karfreitag, auch in der Grabesstille am Samstag. Dann wird es den Ostermorgen geben.
Das mit der Ouvertüre aber haben sich die Evangelisten nicht einfach schlau ausgedacht (und auch nicht ich). Das ist ein innerbiblisches Echo, das von weit her kommt. Wenn man dem nachlauscht, dann erst weiß man, worum es wirklich geht. Das ist übrigens ganz ähnlich wie in der genialen IX. Motette der Marienvesper von Claudio Monteverdi. Da antwortet auf jeden Satz des Chores eine Stimme aus dem fernen Hintergrund. Sie wiederholt wie ein Echo die letzten Silben des letzten Wortes, aber so, dass dabei die im Satz des Chores gestellte Frage oder geäußerte Bitte tatsächlich beantwortet wird. Etwa sinngemäß so:
Der Chor singt von Maria:
Ist sie die heilige und selige Pforte, durch die der Tod vertrieben wurde, das Leben aber Eingang fand?
(Echo: Sie ist's)
Natürlich hört man die Pointe nur im Lateinischen:
Illa sacra et felix porta, per quam mors fuit expulsa, introduxit autem vita,
(Echo: ita).
Und genau so etwas hat es auch mit den Evangelien der beiden ersten Fastensonntage auf sich, dieser Doppelpforte zur Fasten- und Osterzeit. Sie sind nämlich auch ein Echo, das eine tiefe Antwort gibt. Wo aber klingt das Wort auf, dessen Echo sie bilden?

IV
Man muss nur mit dem Suchraster „Doppelpforte“ in der Bibel blättern und findet das Gesuchte gleichsam auf Punkt und Komma – am Anfang des Psalmenbuches. Die Alttestamentliche Exegese weiß schon lange, dass der Psalm 1 und der Psalm 2 zusammen das Buch der 150 Psalmen insgesamt eröffnen, dieses Gebet-, Jubel-, Klage- und Trostbuch Israels und der Kirche. Der erste Psalm ist ein so genannter Weisheitspsalm: Er vergegenwärtigt, wie es mit dem Menschen steht und worauf es im Leben wirklich ankommt. Und der zweite Psalm gehört dem Strang des messianischen Denkens an. Er preist Gott für seine Macht und Treue, weil er sein Volk, das kleine und gefährdete, nicht vergisst, weil er es durch seinen Boten verteidigt gegen die feindlichen Mächte der Welt und gerade an der Schwachheit der Schwachen seine Herrlichkeit erweist. Weisheit, deren Anfang die Gottesfurcht ist, und messianische Hoffnung sind die Vorzeichen des Psalmenbuches, in dem nach einem Wort des Kirchenvaters Ambrosius die ganze Heilige Schrift zusammengefasst und verdichtet ist. Weisheit und Hoffnung sind der Schlüssel zum Geheimnis der ganzen Geschichte Gottes mit seinen Geschöpfen.
Sieht man noch ein wenig näher zu, dann entdeckt man diesen Wort-Antwort- oder Ruf- und Echozusammenhang zwischen den ersten beiden Psalmen und dem Evangelium des 1. und 2. Fastensonntags bis ins Detail hinein:
Der Psalm 1 beginnt mit einer sich steigernden Dreierliste dessen, was sich gegen Gott richtet und ihn missachtet:
Selig der Mann,
der nicht folgt dem Rat der Frevler,
der nicht auf dem Weg der Sünder geht,
nicht im Kreis der Spötter thront.
Von Zeile zu Zeile provozierender wird der Gottesgegner gezeichnet: Zuerst dem Frevlerrat folgen, dann schon auf dem Sünderweg mitgehen und schließlich in ihrem Kreis thronen, in gleichsam herrscherlicher Haltung sich zum Gegengott aufwerfen („thronen!“).
Unser Evangelium von der Versuchung hat exakt die gleiche sich steigernde Dreierliste:
Wenn du Gottes Sohn bist, sagt der Teufel zu Jesus, so befiehl diesem Stein zu Brot zu werden. –
Im Angesicht aller Erdenreiche und ihrer Herrlichkeit sagt er zu ihm: Wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest, wird dir alles gehören. –
Und dann führt ihn der Teufel auf die Tempelzinne, dass er sich herabstürze, ein Schauwunder vollbringe, damit die Menschen statt vor dem Allerheiligsten vor ihm, dem Menschen, niederfallen.
Die Urtriebe, die sich auf das Haben, das Herrschen und das Gelten richten als Königswege der Selbstvergötzung des Menschen, hat der Philosoph Hegel in diesen drei Versuchungen verkörpert gesehen. Und wie reagiert Jesus? Er antwortet auf jede der Versuchungen mit einem Vers aus der Schrift, genauer aus dem Buch Deuteronomium, d.h. er tut genau das, was der Psalm 1 vom rechtschaffenen, gottgefälligen Menschen sagt: dass er über die Weisung JHWHs nachsinnt, wörtlich: dass er sie murmelt bei Tag und Nacht. Will sagen: Wer sich ganz einhüllt ins Gotteswort der Schrift wie in einen Mantel, der wird gefeit sein gegen alle Versuchung. Und dessen Weg behütet der Herr selbst im dunkelsten Tal noch. Die Versuchungsgeschichte zeigt uns Jesus genau als diesen Gerechten, der es Gott buchstäblich recht macht aus Freude an seiner Weisung und der darum Gottes Schutz erfährt in der Gefahr. Und auch in der äußersten Gefahr, der des Todes wird er sie darum erfahren, weil Gott treu ist. Darum intoniert das Versuchungsevangelium als Echo des 1. Psalmen die Osterliturgie und ihre Vorbereitung.
Noch einfacher sogar lässt sich der Zusammenhang zwischen dem Evangelium von der Verklärung und dem Psalm 2 erkennen. Am Ende dieser Sternstunde auf dem Tabor, da den Jüngern für einen Moment ein erstes Licht aufgeht, was es mit diesem Jesus auf sich hat, da hören sie in ihrer beglückten Verwirrung eine Stimme aus der Wolke, also dem Sinnbild des unbegreiflichen Gottes sagen:
Das ist mein auserwählter Sohn, auf ihn sollt ihr hören.
Das ist beinahe wörtliches Zitat aus unserem zweiten Psalm, wo Gott, der Herr, lacht über die Anmaßung der menschlichen Herren und Herrschaften und dann zu dem Messiaskönig, den er selber einsetzen wird, sagt:
Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt.
So kündigt er einen Sachwalter seiner Gerechtigkeit an, einen, der die Verschwörung aller Menschenmächte, ihre blutsaugerische Aushöhlung des Lebens und das Chaos, das sie anrichten, aufbrechen wird und der zeigen wird, was sie wert sind: Nicht mehr als missratene Tonkrüge, die der Töpfer zerschmettert zu tausend Scherben – Gedanken im Übrigen und Sprachbilder, die bis in die gesellschaftskritische Philosophie des 20. Jahrhunderts als Leuchtfeuer der Utopie nachklingen bei einem Max Horkheimer etwa, einen Walter Benjamin und selbst noch dem atheistischen Ernst Bloch, so aufgeladen sind sie mit unauslöschlicher Hoffnung auf erlöstes Leben.
Das Echo des Evangeliums auf die Verheißung dieses Gotteswalters gibt dieser Hoffnung einen Namen und ein Gesicht. So unmittelbar und eins zu eins, dass man beinahe Wort für Wort das Zitat vorhin aus der Monteverdi-Vesper auf ihn übertragen kann: Er ist’s, durch den der Tod hinausgeworfen wurde, und der das Leben hereinführt:
per qu[e]m mors fuit expulsa, introduxit autem vita,
(Echo: ita).
Ja, so ist’s. Nur, dass er – die Verheißung des Psalms sogar noch überbietend – die Unheilsmächte, das Chaos, den Tod nicht durch Gegengewalt hinausstößt, sondern indem er sich hinausstoßen lässt und dabei gleichsam den Tod mitreißt, indem er ihn auf sich zieht. Aber weil es der treue Gott ist, der hinter all dem steht, vergilt er seinem treuen Boten dieses persönliche In-die-Bresche-springen gegen den Tod: Er in Person ist auch das neue Leben, das jetzt in die Welt kommt – das meinen wir mit Ostern.

V
Wer sich in diesen Tagen auf Ostern vorbereiten möchte, muss nichts anderes tun, als in dieses Ruf- und Echospiel selber einzutreten: Im Hin und Her zwischen beidem wird er oder sie selber so ein Gerechter, eine von Gott Behütete aus dem ersten Psalm werden im beständigen Murmeln der Gottesweisung, also am einfachsten im Beten der Psalmen. Und sie oder er wird dabei immer tiefer hineinwachsen in das Geheimnis Jesu, bis in einer glücklichen Taborstunde in ihm das verborgene Antlitz Gottes aufleuchtet, dessen Gegenwart man wie die Jünger einst nie mehr verlieren mag. Wer jetzt anfängt, seine Seele auf diese geistlichen Akkorde zu stimmen, kann in 40 Tagen ein frohes Ostern feiern.