Vom Danken

28. Sonntag C: Lk 17,11-19 + Dtn 8,7-18

I
Einer der großen Hellsichtigen des 20. Jahrhunderts war der Jude Elias Canetti, oft schwierig als Mensch, teils unerträglich in engen Beziehungen, aber von einem Gespür sondergleichen für das Abgründige. Geradezu mikroskopisch hat er den geheimen Triebkräften der Geschichte und Gesellschaft nachgespürt, die Wurzeln der Gräueltaten bloßgelegt, die auf immer unsere Epoche brandmarken werden. Im Lauf seines Lebens hat Canetti sich von seiner jüdischen Herkunft verabschiedet und zu glauben aufgehört. Trotzdem schrieb er in seinem Buch „Das Geheimherz der Uhr“ den denkwürdigen Satz: „Das Schwerste für den, der an Gott nicht glaubt: Dass er niemanden hat, dem er danken kann. Mehr noch als für seine Not braucht man einen Gott für Dank.“

II
Das war ein Bekenntnis. Zwischen den Zeilen steht die Schwermut dessen, der Gott verloren hat, aber die Klarsicht aufbringt, dass absolut nichts und niemand an Gottes Stelle treten kann, auch nicht er selbst. Und der darum sich auch weigert, das eigene Verdanktsein zu leugnen. So unbedingt ist dessen Wahrheit.

III
Und trotzdem handelt das Evangelium von heute davon, wie leicht diese Wahrheit einem aus den Augen geraten kann. Nicht zufällig hat Lukas in seine große Schilderung dessen, was alles zum Reich Gottes gehört, auch diese Geschichte eingefügt, um damit zu sagen: Was sie erzählt, gehört mit zum Wesentlichen des Menschsein, zu dem, wie Gott uns gemeint hat hat.
Auf seinem Weg nach Jerusalem begegnen Jesus vor einem Dorf zehn Aussätzige. Wer Aussatz hat, war ausgesetzt, ausgestoßen, aller Kommunikation beraubt, weil er den Bestand seiner Volksgemeinschaft gefährdete durch seine ansteckende Krankheit. Ganz dem alttestamentlichen Gesetz entsprechend halten die zehn sich auf Distanz zu anderen. Deshalb rufen sie von fern den Herrn an und bitten um Erbarmen – um Heilung. Und er: Geht und zeigt euch den Priestern, sagt er. Er heißt sie also tun, was zu tun vorgeschrieben war, wenn Heilung eintrat – die Priester im Tempel mussten bestätigen, dass der Aussatz geheilt, also die Gefahr gebannt war. Und die zehn tun wirklich, was Jesus ihnen aufträgt. Obwohl noch aussätzig, machen sie sich auf den Weg zur Bestätigung ihres Geheiltseins. So voller Glauben sind sie. Und eben deshalb geschieht auch, worum sie gebeten haben: während sie zu den Priestern gingen, wurden sie gesund.
Welche Freude mag in den zehn aufgestiegen sein, welcher Jubel – endlich wieder ganz dabei sein, dazugehören, wieder etwas gelten daheim im Dorf. Gerannt werden sie sein, um das erlösende Wort der offiziellen Bestätigung aus dem Mund der Priester zu hören. Ist das alles nicht menschlich und nur zu verständlich? Einer tut anderes. Er kehrt um, sucht noch einmal den Herrn auf, lobt Gott mit lauter Stimme und sagt Jesus Dank für das Geschenk der Heilung. Und dieser eine – ausgerechnet der Einzige, der dankt - ist ein Samariter, ein Ausländer und Nichtisraelit, genau der, der naturgemäß Jesus am wenigsten nahe stand. Gewiss waren auch die anderen neun fromm, sonst hätten sie nicht glaubend Heilung erhofft von Jesus, diesem Boten Gottes. Sie aber sind nicht zurückgekehrt und haben nicht gedankt, obwohl sie so fromm waren. Muss ich vielleicht sagen: weil sie so fromm waren?
Dass Jesus ausdrücklich nach den Anderen fragt: Wo sind die übrigen neun? Ist denn keiner umgekehrt, um Gott zu ehren, außer diesem Fremden? – Dass er so fragt, das lässt ja deutlich werden, wie wenig ihm der Dank dieses einen nur als Zeichen von Anstand galt. Im Tun dieses Mannes, das Jesus so wichtig ist, - in der Geste des Niederfallens und dem Dank in der Form des Lobpreises Gottes liegt ganz anderes beschlossen. Deshalb auch spricht Jesus zu diesem einem - und nur zu ihm -, obwohl er schon geheilt ist, das Segenswort: Steh auf und geh, dein Glaube hat dir geholfen. Der Herr will damit sagen: Selbst der erstaunliche Glaube der neun ist noch nicht das Heil, solange dieser Glaube nicht zur Erkenntnis der Güte Gottes kommt derart, dass diese Erkenntnis als Dank ins Wort drängt. Erst das Wort danke macht das Heil ganz. Gewiss hätte es für die zehn Männer kein Heil geben können ohne Heilung. Aber die Heilung allein – obwohl aus Glauben empfangen – ist noch nicht das Heil. Glauben und Danken zusammen erst machen es aus. Und warum? Weil der Mensch trotz des Glaubens ohne das Danke sagen noch immer bei sich stehen bliebe. Ja mehr noch: Weil er aufgrund seines Mutes zu glauben das zur Heilung führende Tun im Letzten noch sich selbst als Verdienst zurechnete. Das war ja der große Unterschied zwischen den neun und dem einen: In den Herzen der neun gesellt sich zur Freude über die Heilung im verborgensten Winkel so etwas wie die Gewissheit hinzu, auf das Wunder Heilung, Recht und Anspruch zu haben, weil sie doch gläubig sind – deshalb kommt Ihnen das Danken gar nicht in den Sinn. Der eine, der Fremdling, weiß, dass alles Geschenk ist, das sich nur ersehnen, nicht aber einklagen lässt. Im schlichten Danke sagen und im Lobpreis Gottes hat er jene gottvergessene Rückbiegung auf sich selbst zerbrochen. Dadurch wird ihm das ganze Heil zuteil. Das richtet seine Existenz als ganze auf. Darum darf er hören: Steh auf... dein Glaube hat dir geholfen. Im kleinen Wort danke wird also eine Scheidung vollzogen: Ob einer durch die Gabe hindurch noch den Geber sieht – oder ob er die Gabe selbst, seine Gesundheit, sein Glück, - ob er die zu seinem Gott, will sagen: Götzen, erhebt. Ob einer danke sagt oder nicht danke sagt – auch für die kleinen Dinge, die ihn beglücken, auch für das vermeintlich Selbstverständliche -, darin liegt der Unterschied beschlossen zwischen Gottesdienst und Götzendienst. Deshalb steht die Geschichte vom Danke sagen mitten in Lukas Beschreibung vom Leben im Gottesreich.

IV
Ihr Seltsamstes hat sie auf den ersten Blick gewiss darin, dass ausgerechnet jener Fremde, der sich nicht einrichten kann da, wo er ist, und der weiß, dass er nicht wie selbstverständlich hierher gehört und darauf ein Anrecht besitzt, dass er als Einziger tut, was doch eigentlich als selbstverständlich zu erwarten stünde, wie auch Jesu Fragen an ihn, den Zurückgekehrten andeuten, ob denn nicht alle zehn rein geworden seien - und die übrigen neuen, wo sie seien. Doch seltsam nur scheinbar auch dies: In der Lesung aus dem Buch Deuteronomium vorhin hörten wir, was Mose dem Volk kurz vor dem Einzug ins gelobte Land regelrecht einschärfte: Wenn der Herr, dein Gott, dich in ein prächtiges Land führt, ein Land, in dem dir nichts mehr fehlt, ... wenn du gegessen hast und satt geworden bist und prächtige Häuser gebaut hast, dann nimm dich in acht, dass dein Herz nicht hochmütig wird und du den Herrn, deinen Gott vergisst, der dich aus dem Sklavenhaus Ägyptens und durch die furchterregende Wüste geführt hat. Um es vor gottvergessenem Eigendünkel - also Undank - zu bewahren, erinnert Mose das Volk an die Zeit der großen Wanderung, an die Zeit des Wüstenzuges, da die Israeliten bis zum Grund erlebten, was sie zutiefst ihrem Wesen nach sind: Wanderer auf Erden, zwischen Aufgang und Untergang, zwischen Geburt und Grab, Fremde - Herren nicht einmal im Haus des eigenen Lebens. Wesen statt dessen, die nicht über ihr eigenes Woher und Wohin verfügen. Wer gedenkt, dass er von Wesen Wanderer ist auf Erden, vergisst das Danken nicht so leicht.
Wenn einer eben ob der Anerkenntnis dieser Wahrheit über sich vertraut und dankt, tut er, was seinem Wesen entspricht. Darum machen Glaube und Dank zusammen erst uns zu Bürgern des Gottesreiches: dass wir von Gott her und auf ihn hin lebend ganz wir selber sind. Nicht danken heißt Gott sagen: Du schuldest mir, dass es mich gibt. Und mit Sicherheit nicht lange, dann wird, wer so denkt, den Schuldner selbst loszuwerden suchen, um sich Grund und Halt allein zu geben - um jeden Preis; und jeder gegen jeden darum. Wer nicht dankt, nimmt nur noch. Und nimmt immer mehr, weil er nicht gewiss ist, ob das Genommene reicht, bis ihm die Erde Feindin wird und der Nächste verhasster Rivale, den es zu beseitigen gilt. Wer nicht dankt, muss darum eines Tages zerstören und töten. Wer nicht dankt, muss verwildern im buchstäblichen Sinn des Wortes. Die Väter und Mütter unseres Glaubens haben das gewusst. Für uns heute sind die gnadenlos Folgen der Verleugnung unseres Verdanktseins schon längst unübersehbar geworden in den Wunden der Schöpfung, in den Feindseligkeiten gegen Fremde. Die Frage ist nur, ob wir überhaupt wissen wollen, wieso es dazu kommt.

V
Ich denke, Christinnen und Christen sind da in eine unbedingte Pflicht genommen: Wir haben durch Glaube und Handeln die unbequeme Erinnerung wach zu halten, wie es in Wahrheit steht um Welt und Mensch - und dass wir nur durch Dank bestehen. Unbequem ist diese Erinnerung deshalb, weil sie so viele öffentliche Selbstverständlichkeiten in ihrer Bodenlosigkeit entlarvt. Unbequem, vielleicht sogar riskant auch deswegen, weil die, die an die Wahrheit des Verdanktseins erinnern, umstandslos mit der Attacke derer zu rechnen haben, die sich absolut nicht erinnern lassen wollen. Den Dank selber und den Mut zur Erinnerung an ihn - den üben wir jeden Sonntag ein, durch die Feier der Eucharistie, der Danksagung. Wer so dankt, wie Christen danken, kann den unbedingten Willen eines Canetti zur Wahrheit teilen und muss sich trotzdem nicht wie Canetti in Tragik verstricken. Christlicher Dank ist erlöster Dank. Erlöster Dank widersteht den Zwängen, in die der Undank stürzt. Das schulden wird Christinnen und Christen der Welt - und uns selbst.