Die große Verwandlung

5. Fastensonntag: Joh 8, 1-11

I
Bismarck hatte einmal einen jungen Mann zu Gast, der sich ihm vorstellte, um sich für einen hohen Posten zu bewerben. Der Besucher war entsprechend nervös. Die Zwei sprachen während des Essens über militärische Sachen. Mittendrin stieß der junge Mann vor lauter Aufregung sein Rotweinglas um. Bismarck verlor kein Wort darüber. Stattdessen taucht er seinen Finger in den verschütteten Wein und zeichnete auf der blütenweißen Tischdecke die militärische Schlachtordnung nach, über die er gerade sprach.

II
So etwas nennt man wohl Takt oder Feingefühl. Bismarck hat das Missgeschick seines Besuchers nicht überspielt. Aber er hat ihm durch seine Reaktion alle Peinlichkeit und damit dem Verursacher die Angst genommen. Was die Unterhaltung normalerweise unterbricht – das Ausschütten des Glases –, das hat er einfach zum Mittel der weiteren Verständigung mit dem anderen gemacht. Wahrlich souverän und sensibel zugleich muss sein, wer das vermag.

III
Mich verblüfft, dass dieser Vorfall von vor gut hundert Jahren so etwas wie ein buchstäbliches Vorbild im Evangelium hat. Ein Vorbild freilich, bei dem es um unvergleichlich mehr geht als um ein verschüttetes Weinglas. Es war kurz vor dem Palmsonntag, an einem jener Tage, da Jesus im Tempel lehrte. Da schleppten die Schriftgelehrten eine Frau vor ihn, die gerade beim Ehebruch ertappt worden war – ein Vergehen, das damals die Todesstrafe nach sich zog. Die Rechtslage ist klar, die Frau leugnet auch gar nicht. Dass die Männer die Frau dennoch vor Jesus bringen – als ob er zuständig wäre für solche Dinge –, das hat seinen wohlbestimmten Grund: Sie wollen ihm eine Falle stellen. Das Verhängen der Todesstrafe auf Ehebruch war im Judentum zur Zeit Jesu nämlich höchst umstritten. Immer wieder gab es Vorstöße, die archaische Strafform abzumildern. Aber es gab auch konservative Gegenstimmen. Und das suchten Jesu Gegner auszunutzen. Würde er sagen: Bestraft die Frau nach dem Gesetz, dann könnten sie ihm entgegenhalten, wo denn nun auf einmal seine hinlänglich bekannte Menschlichkeit, sein immer wieder zu erlebendes Zugehen auf die Sünder geblieben sei, von dem er doch behaupte, dass es Gottes eigene Wesensart verkörpere. Würde er sich aber gegen die gesetzliche Strafe aussprechen, dann könnten sie ihm vorwerfen, dass er Gott – entgegen seiner sonstigen, manchmal auch äußerst kritischen Predigt – wohl doch nicht so sehr ernst nehme. Eine todsichere Sache also, um diesen Störenfried endlich einmal aufs Kreuz zu legen, wie man so sagt – wobei die Gegner genau das, dieses aufs Kreuz legen, buchstäblich genommen schon im Hinterkopf trugen.

IV
Jesus aber antwortet nicht. Er bückt sich und schreibt in den Sand. Das tut er nicht aus Verlegenheit. Vielmehr setzt er damit ein uraltes Zeichen, das jeden wie vom Donner gerührt sein lassen musste, der das Alte Testament kannte. An einer Stelle im Buch des Propheten Jeremia nämlich heißt es: Alle, die sich von mir abwenden, werden in den Staub geschrieben. – In den Staub geschrieben, so viel ist wert in Gottes Augen, was da vor Jesus geschieht. Keiner kann vor Gott bestehen mit dem, was er ist und tut. Nicht nur die Frau nicht. Auch die anderen nicht, die ihre Verurteilung suchen. Auch das ist so wertlos wie ein Gekritzel im Sand, das schon der nächste Windstoß verweht. Und warum? Weil die Schriftgelehrten hartnäckig weiterfragen, als ob sie nicht verstanden hätten, fasst Jesus in Sprache, was die Geste wortlos gesagt hatte: Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.
Bei einer Steinigung hatte der Zeuge der Untat den ersten Stein zu werfen und damit die Verantwortung für die Hinrichtung zu übernehmen. Jesu Wort macht klar, dass keiner – prinzipiell keiner! – das kann, weil er dafür seinerseits von Schuld völlig frei sein müsste. Darum geht einer nach dem anderen, die Ältesten zuerst, weil sie aus ihrer reichen Lebenserfahrung untrüglich wissen, dass solche Schuldlosigkeit keiner beanspruchen kann. Die Schriftgelehrten verstehen das.

V
Jetzt sind Jesus und allein die Frau noch übrig. Gerade dadurch, dass er sie verteidigt hat gegenüber den Schriftgelehrten, ist ihre Schuld offenkundig geworden auf eine Weise, wie sie ungeschminkter nicht sein könnte, ohne dass die Frau bloßgestellt würde dadurch. Denn Jesus holt sie heraus aus ihrer Not, indem er die Schuldfrage gerade nicht stellt, sondern: Hat dich keiner verurteilt? – Keiner, Herr! – Und er: Auch ich verurteile dich nicht. Geh’ und sündige von jetzt an nicht mehr! Da haben Sie in zwei Sätzen zusammengefasst, warum die Frohe Botschaft frohe Botschaft heißt.
Dabei ist das, was Jesus da tut, nicht einmal ganz neu. Es gibt im Alten Testament an etlichen Stellen so etwas wie eine Art Vorausbilder, Schattenrisse – könnte man sagen – für diese buchstäbliche Zuvorkommenheit zugunsten des Menschen. Auffällig oft tauchen solche Blaupausen in sehr entscheidenden, dramatischen Episoden der biblischen Erzählungen auf. Das erste Mal – gleichsam noch von ferne nur erkennbar – begegnet dieses Zuvorkommen Gottes in der Abrahamserzählung, genauer in der Geschichte, die vom Weg zu Isaaks Opferung hin erzählt und die wir – nicht zufällig – bald in der Osternacht wieder hören werden: Beide, der Vater und sein geliebtes Kind, sind unterwegs, der Vater mit seiner zentnerschweren stummen Verzweiflung im Herzen, der Sohn ohne Arg. Und dann fragt Isaak, wo denn das Opfertier sei, das es doch für den heiligen Ritus brauche. Und Abraham antwortet, kaum selber ahnend, was er in Wahrheit sagt: Gott selber wird sich das Opferlamm bereiten. Wunderbar legte der Kirchenvater Origenes im 3. Jahrhundert die Stelle aus. Er schrieb:
Mir geht diese Antwort Abrahams zu Herzen, so behutsam und klug, wie sie ist. Ich weiß nicht, was Abraham in seinem Geist vorausgesehen hatte […]. Gott wird um das Lamm Sorge tragen [sagt er]. Dem Sohn, der nach der Gegenwart fragte, gibt er eine Antwort, die die Zukunft meint. Denn Gott, der Herr selbst wird für das Opferlamm sorgen in Christi Person.
Etwas Ähnliches, nun aber schon deutlicher, begegnet uns im größeren Zusammenhang unserer ersten Lesung aus dem Jesajabuch, die zwischen dem Ersten und Zweiten Lied vom Gottesknecht steht, also den Versen, die denjenigen besingen, der für Gott alles Böse, alle Gewalt auf sich ziehen und wegschaffen wird. Wieder geht es darum, dass Gott etwas auf sich nimmt, was eigentlich Sache des Menschen wäre. Die Stelle, an die ich denke, vergleicht zwischen den Göttern im scheinbar so mächtigen Babylon und dem Gott Israels: Babels Götter, so sieht der Prophet visionär, sind in Wahrheit nur tote Götzenfiguren. Sie
[…] werden auf Tiere geladen. […]
Die Tiere krümmen sich und brechen zusammen,
sie können die Lasten nicht retten.
[Doch] ihr alle, die vom Haus Israel noch übrig sind,
die mir aufgebürdet sind vom Mutterleib an […]
Ich bleibe derselbe, so alt ihr auch werdet,
bis ihr grau werdet will ich euch tragen.
Ich habe es getan,
und ich werde euch weiterhin tragen,
ich werde euch schleppen und retten (Jes 46, 1-4).
Überall auf der Welt sind die Götter oben und die Menschen unten. Bei Israels Gott steht die Welt Kopf. Gott erweist sein Gottsein darin, dass er – statt sich tragen, sich huldigen und betteln zu lassen – sich selbst zum Lasttier, zum Esel buchstäblich macht für seine Geschöpfe, um sie treu zu tragen bis zum Alter hin.
Und unser Antwortgesang vorhin auf die Jesaja-Lesung, der Ps 126, ist das beglückte Echo derer, die noch gar nicht glauben können, dass sie durchgekommen, herausgeholt sind aus dem Los der Gefangenschaft, dem Abgrund des Verhängnisses. Wie Träumende, die Augen noch nass von den Tränen, doch schon den Jubel im Herzen. Wenn der Ehebrecherin die Gebete ihres Volkes nicht fremd waren, und das waren sie kaum, dann wird sie mit diesem Psalm gebetet haben können. Wird sie an sich selbst und ihrer Seele aufs Neue erlebt haben, was einst ihre Väter und Mütter im Glauben am Ende der babylonischen Gefangenschaft hatten erfahren dürfen.
Und wir, wir heute erinnern uns jener Vorausbilder, singen den Psalm, hören die Geschichte von der Frau, weil nirgends steht, dass sie die Letzte gewesen wäre, die das hätte erfahren dürfen. Im Gegenteil, wenn Gott so ist, wie er sich seit Abraham und in Babylon und im Jerusalemer Tempel in Jesus enthüllt, spricht nichts dagegen und alles dafür, dass er seine Treue, seine durch nichts zu beirrende Zuvorkommenheit gerade dem Sünder gegenüber immer wieder noch einmal erweisen und bestätigen wird, wo immer eine oder einer sich von dem Inbild dieses Gottes so an die Seele rühren lässt, dass ihn oder sie die eigene Sünde bestürzt.

VI
Bismarck in unserer Geschichte vorhin hatte aus Taktgefühl – einfach, weil er seinen Gast nicht blamieren wollte –, sich mit Hilfe des verschütteten Weins mitgeteilt und so die Situation zugunsten des anderen gerettet. Jesus tut etwas irgendwie Ähnliches und doch unvergleichlich Kühneres: Er macht aus seiner inneren Vertrautheit mit dem Gott Abrahams die Schuld – ja wirklich: die Schuld! – der Frau zum Verbindenden zwischen sich und ihr und damit zwischen ihr und Gott. Und weil Schuld das ist, was jeder Mensch unbedingt vergeben bekommen möchte und was Gott genauso unbedingt vergeben will – das ist das, was Gott und Mensch verbindet an der Schuld –, darum verurteilt Jesus die Frau auch nicht. So verwandelt er die Schuld. Wer Gottes Güte begegnet, erkennt zugleich auch, dass er gar nicht nötig hat zu sündigen. Umso mehr tut ihm die getane Sünde leid. Und dadurch ist er erlöst von ihr. – So viel Vertrauen in uns! Und so viel Freiheit für uns. Das erlebt, wer sich mit seiner, ihrer Sünde in Christi Augen stellt.