Wenn der Tod zum Leben gehört
10. Sonntag C: Lk 7,11-17
I.
Über den Philosophen Pythagoras werden seit alters viele Legenden erzählt. Eine von ihnen weiß darum, wie Pythagoras einmal von einer giftigen Schlange gebissen wurde. Seine Begleiter schrieen auf und warteten darauf, dass er jeden Augenblick zusammenbräche. Doch Pythagoras bückte sich und biss seinerseits die Schlange zurück. Kurz darauf lag sie reglos da. Er hatte sie mit ihrem eigenen Gift getötet, das sie zuvor in seinen Leib gespritzt hatte. So überlebte er.
II.
Die Injektion des Todes hatte Pythagoras vergiftet. Doch indem er keine Scheu empfindet vor dem Verderblichen und Giftigen in sich, – weil er es nicht verdrängt, sondern gleichsam in Dienst nimmt –, kann er sich der Vernichtungskraft des Gifts entziehen und die Ursache der Vergiftung, die Schlange entmächtigen. So erzählt uns diese Legende – in Ursymbolen verdichtet – davon, was menschliches Leben durch alle Gefährdung hindurch allein zu retten vermag. Der Tod verkörpert dabei nichts anderes als die Aufgipfelung aller Attacken und Vergiftungen, denen unser Leben ausgesetzt ist: Jede unheilbare Krankheit, jede enttäuschte Hoffnung, jede zerbrochene Ehe, jedes irreparabel gewordene Zerwürfnis zwischen Eltern und Kinder: All das trägt ja schon im Vorschein die Züge jenes großen Fragezeichens, das der Tod dann unabweislich und in stummer Fraglosigkeit über jedes Menschenleben zeichnet. Warum gerade immer ich? Was hat das Ganze überhaupt noch für einen Sinn? Ist mein Leben nichts anderes mehr als eine Sisyphus-Situation? Dieser Verdacht ist es, der alles lähmt und bis zum Grunde vergiftet – manchmal so sehr, dass sich einer ihm dadurch zu entziehen hofft, dass er selber sein Leben beendet. Oder gibt es ein Entkommen aus diesem Sog? Hat die Pythagoraslegende etwas Wahres erahnt?
III.
Ob ein Leben durch alle Beirrungen hindurch auf einen guten Ausgang hoffen darf – diese Frage ist für Christinnen und Christen eindeutig entschieden. Die Antwort darauf haben Sie vorhin im Evangelium gehört. Und weil sich über die abgründigen Dinge des Lebens nicht anders reden lässt als in Bildern und Symbolen, deshalb hat auch Lukas darüber mit der Geschichte von Jesus und dem jungen Mann von Nain in lauter Symbolen gesprochen. Freilich: Solches Wissen in Geschichten muss behutsam freigelegt werden, indem man jedem einzelnen Zug der Geschichte des Evangeliums aufmerksam nachgeht.
Wie auf einer Bühne lässt Lukas uns das Geschehen in einer Szenenfolge vor Augen treten: Da kommt Jesus, gefolgt von den Jüngern und einer großen Menschenmenge, zur Stadt Nain. Vor der Stadt begegnet dieser Jesus-Zug einem anderen: dem Leichenzug mit der Mutter des jung Verstorbenen und den Vielen, die Anteil nehmen an ihrem Geschick. An der Spitze des Trauerzugs: die Bahre mit dem Leichnam. An der Spitze des Gegenzugs: Jesus. „Anführer des Lebens“ hat Petrus den Herrn einmal genannt nach Ostern, wie die Apostelgeschichte berichtet. Er wusste, wovon er sprach. Leben und Tod begegnen sich da. Den Tod hat Lukas dabei überscharf mit allen Zügen der Absurdität ausgestattet, wie sie einen im Grunde an jedem Sterbebett anspringen können: Ein junges Menschenleben ging da zu Ende. Was hätte nicht alles werden können daraus? Wie viele uneingelöste Hoffnungen nimmt es mit sich hinab. Aber mehr noch: der einzige Sohn seiner Mutter war der Tote, der Sohn einer Witwe: ihre ganze Hoffnung, vielleicht ihr Stolz, ihr Halt und ihre Sicherheit für das eigene Auskommen. Zieht dieser Tod der Frau nicht den letzten Rest Boden unter den Füßen weg? Wozu soll sie überhaupt noch leben? Frühchristliche und mittelalterliche Künstler haben genau das in ihren Bildern von dieser Geschichte gemalt: Die Häuser der Stadt Nain haben sie mit schiefen, verrutschten Wänden, Dächern und Fenstern dargestellt und das Gewand der trauernden Mutter hat meist die gleiche Farbe wie das Leichentuch des Sohnes. Will sagen: Der Tod hat ihr Leben schon vergiftet. Im Grunde ist auch sie schon tot, weil ihr ganzes Dasein, ihre Welt aus dem Lot geraten war. Inbild sinnlos gewordenen Lebens – diese Frau, der das Liebste genommen ist.
Nun aber – entscheidend, um dieses Evangelium nicht misszuverstehen: Als der Herr diese Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr, schreibt Lukas. Nicht also den Toten sieht Jesus zuerst und wendet sich ihm zu, sondern der Mutter mit ihrer gebrochenen Existenz. Ihr Hingehen zum Grabe hält Jesus auf. Das tut er, indem er den Sohn anruft. Und was geschieht? Der Tote beginnt zu sprechen, sagt der Evangelist tief verschlüsselt. Der Tod, dieses verschlossenste Rätsel unseres ganzen Daseins, macht sich also vernehmlich, teilt sich mit und verbindet sich so wieder der Sphäre der Lebenden. Jesus hat ihn – den Tod – wieder hineingerufen in den Bereich des Menschlichen. Der Tod ist nichts, was das Menschsein ausstoßen müsste, um nicht vergiftet zu werden. Er gehört hinein und nur wer ihn darin lässt, dem wankt nicht der Boden unter den Füßen und stürzt nicht die Decke auf den Kopf. Ihn, den Tod, nicht nur seinen leiblichen, sondern den Tod in allen seinen vorweggenommenen Formen darin lassen in unserem Lebenshaus, ihn annehmen als uns zugehörig, weil gerade so unser Dasein im rechten Maß und Lot bleibt, darauf kämen wir von selber nie. Denn in der angstbesetzten Not, uns selbst unser Dasein garantieren zu wollen, erfahren wir jeden Tod und jede Gestalt seines Vorscheins als unwiederbringliche Lebenseinbuße. Die kleinen und großen Tode annehmen können als etwas Menschliches, dazu braucht es einen, der genau weiß, was Menschsein heißt – und eben das weiß nur, wer Gott kennt – eben so, wie wir das von Jesus bekennen.
IV.
Dass wir unser Evangelium als Inbild dieser helfenden Tat Gottes an der Mitte unseres Daseins lesen dürfen und gänzlich unterschätzten, wenn wir es für einen Bericht über ein Mirakel hielten, darauf verweist uns am Ende auch, wie Lukas die Umstehenden reagieren lässt: Von Furcht ergriffen, priesen sie Gott und sagten: Ein großer Prophet ist unter uns aufgetreten, Gott hat sich seines Volkes angenommen. Wäre es um eine Wundertat gegangen, die Leute wären entweder entsetzt geflohen oder sie wären wie Trauben um den wieder Lebendigen zusammengeströmt; sie hätten ihn betastet, bewundert, befragt. Und Jesus hätten sie auf die Schultern gehoben und gefeiert als Wunderheiler, zumindest hätten sie dieses Ereignis von jetzt an als Erweis seiner Macht und Autorität gelten lassen. Doch nichts von all dem: Ihre Reaktion besteht im Lobpreis Gottes. Und Jesus nennen sie einen großen Propheten – also einen, der kundtut und anschaulich macht, was Gottes Wille: dass wir lernen, Menschen zu werden, lernen, unser Leben von seinem Anfang bis zu seinem Ende menschlich zu leben – auch dort noch, wo uns Leid, Ohnmacht und einmal der Tod widerfahren. Unser Evangelium sagt dazu nicht weniger als dies: dass es möglich ist, von Gott her solche Beirrungen meines Lebens anzunehmen ohne Angst und Verzweiflung; dass gerade durch solche Annahme – wenn wir nicht mehr restlos alle Kräfte verbrauchen, um sie draußen zu halten –, dass gerade dadurch unser Leben ganz ins Lot kommt.
V.
Mehr noch als bei anderen Geschichten des Evangeliums freilich gilt bei dieser, dass – wer sie verstehen will – sich selbst muss in sie hineinverstricken lassen. Vielleicht ist das gar nicht so schwer: Betrachten Sie immer wieder einmal in Stille dieses Lukas-Gemälde von der Botschaft Jesu. Eines Tages werden Sie in diesem Gemälde sich selbst entdecken. Am Platz der Mutter im Leichenzug. Wie Sie – in Trauer gehüllt – Liebgewordenes zu Grabe tragen müssen: die felsenfesten Urteile über den oder jenes; Ihre robuste Gesundheit; eine strahlende Glückssträhne; die Hoffnung auf den Erfolg Ihrer Mühen als Vater und Mutter – auch im Religiösen; das Glück lebenslanger Partnerschaft, wenn nach dem Abkühlen der großen Gefühle füreinander schon der gemeinsame Werktag zur fordernden Aufgabe werden will. Und wenn Sie einmal am offenen Grab eines lieben Menschen stehen. Wahrscheinlich haben Sie längst irgendwann schon einmal in seiner solchen Situation gestanden und gefragt: Warum? Und – so sicher wie das Amen in der Kirche – es wird nicht das letzte Mal gewesen sein. Auf solchen Trauerzügen bewegen wir uns im Letzten unser ganzes Leben lang – bis uns einmal das Allerliebste genommen wird: wir uns selber im eigenen Sterben. Doch ein Totentanz, unsere Weltzeit? Wenn ein Mensch jedes Mal ein solches Hergeben mit bodenloser Trauer beantworten müsste, dann würde er unausweichlich eines Tages so denken müssen. Und dann wird ihn über kurz oder lang das Gift der kleinen Alltagstode selbst tödlich vergiftet haben, längst vor dem Sterben.
Es kann sich eine oder einer bei seinem Hingang zu den Gräbern aber auch aufhalten lassen. Weil da einer ist, der uns eben gerade dabei begegnen will. Wenn wir es zulassen, tritt er ein in die Situation unserer Trauer. Betend stellten wir vor ihm die Bahren nieder mit all dem, was uns genommen wird. Und er? Er schaut uns an und deutet schweigend auf seine Wunden. Sie sind das zusammenfassende Zeichen für alles, was er schon hat hergeben müssen – bis hin zum nackten Leben. Und dennoch bekennen wir ihn als den Lebendigen, den Auferweckten – will sagen: Alles Hergeben hat ihn nicht vergiften können, nicht um sein Leben gebracht, weil es ein Hergeben im grenzenlosen Zutrauen zu Gott war. Und im Hintergrund von allem die Zustimmung dazu, dass die menschliche Grundfrage nicht heißt: Was muss ich machen? Sondern: Was muss ich lassen? Da wurzelt das Geheimnis seines Lebens. Und dadurch hat Gott ihn zu dem gemacht, der unsere Trauerzüge aufhalten und umwenden kann zum Leben hin.
Wenn ein Mensch immer wieder die Nähe des Herrn sucht und mit ihm umgeht, da wird sich an ihm ein Vertrauen darauf entzünden, dass mich kein einziges Hergeben ums Leben bringt, weil nach jedem Hergeben Gottes Hand mich birgt und auch dann noch aus meiner Existenz etwas Ganzes werden kann – von ihm her. Vertrauen, das die Angst an der Wurzel meines Lebens beruhigt, weil ich vorweg zu jedem Geschick und jeder Ohnmacht unbedingt bejaht und geliebt bin von dem, der allein Unbedingtes vermag.
Lukas berichtet, dass die Menschen auf Jesu Tun mit dem Lobpreis Gottes geantwortet haben. Mit unserem Beten und Feiern jetzt in dieser Stunde tun wir nichts anderes als einzustimmen in diesen Lobpreis. Es ist unser Dank dafür, dass Gott selbst uns durch Jesus ins Geheimnis des Menschseins einweiht.
Über den Philosophen Pythagoras werden seit alters viele Legenden erzählt. Eine von ihnen weiß darum, wie Pythagoras einmal von einer giftigen Schlange gebissen wurde. Seine Begleiter schrieen auf und warteten darauf, dass er jeden Augenblick zusammenbräche. Doch Pythagoras bückte sich und biss seinerseits die Schlange zurück. Kurz darauf lag sie reglos da. Er hatte sie mit ihrem eigenen Gift getötet, das sie zuvor in seinen Leib gespritzt hatte. So überlebte er.
II.
Die Injektion des Todes hatte Pythagoras vergiftet. Doch indem er keine Scheu empfindet vor dem Verderblichen und Giftigen in sich, – weil er es nicht verdrängt, sondern gleichsam in Dienst nimmt –, kann er sich der Vernichtungskraft des Gifts entziehen und die Ursache der Vergiftung, die Schlange entmächtigen. So erzählt uns diese Legende – in Ursymbolen verdichtet – davon, was menschliches Leben durch alle Gefährdung hindurch allein zu retten vermag. Der Tod verkörpert dabei nichts anderes als die Aufgipfelung aller Attacken und Vergiftungen, denen unser Leben ausgesetzt ist: Jede unheilbare Krankheit, jede enttäuschte Hoffnung, jede zerbrochene Ehe, jedes irreparabel gewordene Zerwürfnis zwischen Eltern und Kinder: All das trägt ja schon im Vorschein die Züge jenes großen Fragezeichens, das der Tod dann unabweislich und in stummer Fraglosigkeit über jedes Menschenleben zeichnet. Warum gerade immer ich? Was hat das Ganze überhaupt noch für einen Sinn? Ist mein Leben nichts anderes mehr als eine Sisyphus-Situation? Dieser Verdacht ist es, der alles lähmt und bis zum Grunde vergiftet – manchmal so sehr, dass sich einer ihm dadurch zu entziehen hofft, dass er selber sein Leben beendet. Oder gibt es ein Entkommen aus diesem Sog? Hat die Pythagoraslegende etwas Wahres erahnt?
III.
Ob ein Leben durch alle Beirrungen hindurch auf einen guten Ausgang hoffen darf – diese Frage ist für Christinnen und Christen eindeutig entschieden. Die Antwort darauf haben Sie vorhin im Evangelium gehört. Und weil sich über die abgründigen Dinge des Lebens nicht anders reden lässt als in Bildern und Symbolen, deshalb hat auch Lukas darüber mit der Geschichte von Jesus und dem jungen Mann von Nain in lauter Symbolen gesprochen. Freilich: Solches Wissen in Geschichten muss behutsam freigelegt werden, indem man jedem einzelnen Zug der Geschichte des Evangeliums aufmerksam nachgeht.
Wie auf einer Bühne lässt Lukas uns das Geschehen in einer Szenenfolge vor Augen treten: Da kommt Jesus, gefolgt von den Jüngern und einer großen Menschenmenge, zur Stadt Nain. Vor der Stadt begegnet dieser Jesus-Zug einem anderen: dem Leichenzug mit der Mutter des jung Verstorbenen und den Vielen, die Anteil nehmen an ihrem Geschick. An der Spitze des Trauerzugs: die Bahre mit dem Leichnam. An der Spitze des Gegenzugs: Jesus. „Anführer des Lebens“ hat Petrus den Herrn einmal genannt nach Ostern, wie die Apostelgeschichte berichtet. Er wusste, wovon er sprach. Leben und Tod begegnen sich da. Den Tod hat Lukas dabei überscharf mit allen Zügen der Absurdität ausgestattet, wie sie einen im Grunde an jedem Sterbebett anspringen können: Ein junges Menschenleben ging da zu Ende. Was hätte nicht alles werden können daraus? Wie viele uneingelöste Hoffnungen nimmt es mit sich hinab. Aber mehr noch: der einzige Sohn seiner Mutter war der Tote, der Sohn einer Witwe: ihre ganze Hoffnung, vielleicht ihr Stolz, ihr Halt und ihre Sicherheit für das eigene Auskommen. Zieht dieser Tod der Frau nicht den letzten Rest Boden unter den Füßen weg? Wozu soll sie überhaupt noch leben? Frühchristliche und mittelalterliche Künstler haben genau das in ihren Bildern von dieser Geschichte gemalt: Die Häuser der Stadt Nain haben sie mit schiefen, verrutschten Wänden, Dächern und Fenstern dargestellt und das Gewand der trauernden Mutter hat meist die gleiche Farbe wie das Leichentuch des Sohnes. Will sagen: Der Tod hat ihr Leben schon vergiftet. Im Grunde ist auch sie schon tot, weil ihr ganzes Dasein, ihre Welt aus dem Lot geraten war. Inbild sinnlos gewordenen Lebens – diese Frau, der das Liebste genommen ist.
Nun aber – entscheidend, um dieses Evangelium nicht misszuverstehen: Als der Herr diese Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr, schreibt Lukas. Nicht also den Toten sieht Jesus zuerst und wendet sich ihm zu, sondern der Mutter mit ihrer gebrochenen Existenz. Ihr Hingehen zum Grabe hält Jesus auf. Das tut er, indem er den Sohn anruft. Und was geschieht? Der Tote beginnt zu sprechen, sagt der Evangelist tief verschlüsselt. Der Tod, dieses verschlossenste Rätsel unseres ganzen Daseins, macht sich also vernehmlich, teilt sich mit und verbindet sich so wieder der Sphäre der Lebenden. Jesus hat ihn – den Tod – wieder hineingerufen in den Bereich des Menschlichen. Der Tod ist nichts, was das Menschsein ausstoßen müsste, um nicht vergiftet zu werden. Er gehört hinein und nur wer ihn darin lässt, dem wankt nicht der Boden unter den Füßen und stürzt nicht die Decke auf den Kopf. Ihn, den Tod, nicht nur seinen leiblichen, sondern den Tod in allen seinen vorweggenommenen Formen darin lassen in unserem Lebenshaus, ihn annehmen als uns zugehörig, weil gerade so unser Dasein im rechten Maß und Lot bleibt, darauf kämen wir von selber nie. Denn in der angstbesetzten Not, uns selbst unser Dasein garantieren zu wollen, erfahren wir jeden Tod und jede Gestalt seines Vorscheins als unwiederbringliche Lebenseinbuße. Die kleinen und großen Tode annehmen können als etwas Menschliches, dazu braucht es einen, der genau weiß, was Menschsein heißt – und eben das weiß nur, wer Gott kennt – eben so, wie wir das von Jesus bekennen.
IV.
Dass wir unser Evangelium als Inbild dieser helfenden Tat Gottes an der Mitte unseres Daseins lesen dürfen und gänzlich unterschätzten, wenn wir es für einen Bericht über ein Mirakel hielten, darauf verweist uns am Ende auch, wie Lukas die Umstehenden reagieren lässt: Von Furcht ergriffen, priesen sie Gott und sagten: Ein großer Prophet ist unter uns aufgetreten, Gott hat sich seines Volkes angenommen. Wäre es um eine Wundertat gegangen, die Leute wären entweder entsetzt geflohen oder sie wären wie Trauben um den wieder Lebendigen zusammengeströmt; sie hätten ihn betastet, bewundert, befragt. Und Jesus hätten sie auf die Schultern gehoben und gefeiert als Wunderheiler, zumindest hätten sie dieses Ereignis von jetzt an als Erweis seiner Macht und Autorität gelten lassen. Doch nichts von all dem: Ihre Reaktion besteht im Lobpreis Gottes. Und Jesus nennen sie einen großen Propheten – also einen, der kundtut und anschaulich macht, was Gottes Wille: dass wir lernen, Menschen zu werden, lernen, unser Leben von seinem Anfang bis zu seinem Ende menschlich zu leben – auch dort noch, wo uns Leid, Ohnmacht und einmal der Tod widerfahren. Unser Evangelium sagt dazu nicht weniger als dies: dass es möglich ist, von Gott her solche Beirrungen meines Lebens anzunehmen ohne Angst und Verzweiflung; dass gerade durch solche Annahme – wenn wir nicht mehr restlos alle Kräfte verbrauchen, um sie draußen zu halten –, dass gerade dadurch unser Leben ganz ins Lot kommt.
V.
Mehr noch als bei anderen Geschichten des Evangeliums freilich gilt bei dieser, dass – wer sie verstehen will – sich selbst muss in sie hineinverstricken lassen. Vielleicht ist das gar nicht so schwer: Betrachten Sie immer wieder einmal in Stille dieses Lukas-Gemälde von der Botschaft Jesu. Eines Tages werden Sie in diesem Gemälde sich selbst entdecken. Am Platz der Mutter im Leichenzug. Wie Sie – in Trauer gehüllt – Liebgewordenes zu Grabe tragen müssen: die felsenfesten Urteile über den oder jenes; Ihre robuste Gesundheit; eine strahlende Glückssträhne; die Hoffnung auf den Erfolg Ihrer Mühen als Vater und Mutter – auch im Religiösen; das Glück lebenslanger Partnerschaft, wenn nach dem Abkühlen der großen Gefühle füreinander schon der gemeinsame Werktag zur fordernden Aufgabe werden will. Und wenn Sie einmal am offenen Grab eines lieben Menschen stehen. Wahrscheinlich haben Sie längst irgendwann schon einmal in seiner solchen Situation gestanden und gefragt: Warum? Und – so sicher wie das Amen in der Kirche – es wird nicht das letzte Mal gewesen sein. Auf solchen Trauerzügen bewegen wir uns im Letzten unser ganzes Leben lang – bis uns einmal das Allerliebste genommen wird: wir uns selber im eigenen Sterben. Doch ein Totentanz, unsere Weltzeit? Wenn ein Mensch jedes Mal ein solches Hergeben mit bodenloser Trauer beantworten müsste, dann würde er unausweichlich eines Tages so denken müssen. Und dann wird ihn über kurz oder lang das Gift der kleinen Alltagstode selbst tödlich vergiftet haben, längst vor dem Sterben.
Es kann sich eine oder einer bei seinem Hingang zu den Gräbern aber auch aufhalten lassen. Weil da einer ist, der uns eben gerade dabei begegnen will. Wenn wir es zulassen, tritt er ein in die Situation unserer Trauer. Betend stellten wir vor ihm die Bahren nieder mit all dem, was uns genommen wird. Und er? Er schaut uns an und deutet schweigend auf seine Wunden. Sie sind das zusammenfassende Zeichen für alles, was er schon hat hergeben müssen – bis hin zum nackten Leben. Und dennoch bekennen wir ihn als den Lebendigen, den Auferweckten – will sagen: Alles Hergeben hat ihn nicht vergiften können, nicht um sein Leben gebracht, weil es ein Hergeben im grenzenlosen Zutrauen zu Gott war. Und im Hintergrund von allem die Zustimmung dazu, dass die menschliche Grundfrage nicht heißt: Was muss ich machen? Sondern: Was muss ich lassen? Da wurzelt das Geheimnis seines Lebens. Und dadurch hat Gott ihn zu dem gemacht, der unsere Trauerzüge aufhalten und umwenden kann zum Leben hin.
Wenn ein Mensch immer wieder die Nähe des Herrn sucht und mit ihm umgeht, da wird sich an ihm ein Vertrauen darauf entzünden, dass mich kein einziges Hergeben ums Leben bringt, weil nach jedem Hergeben Gottes Hand mich birgt und auch dann noch aus meiner Existenz etwas Ganzes werden kann – von ihm her. Vertrauen, das die Angst an der Wurzel meines Lebens beruhigt, weil ich vorweg zu jedem Geschick und jeder Ohnmacht unbedingt bejaht und geliebt bin von dem, der allein Unbedingtes vermag.
Lukas berichtet, dass die Menschen auf Jesu Tun mit dem Lobpreis Gottes geantwortet haben. Mit unserem Beten und Feiern jetzt in dieser Stunde tun wir nichts anderes als einzustimmen in diesen Lobpreis. Es ist unser Dank dafür, dass Gott selbst uns durch Jesus ins Geheimnis des Menschseins einweiht.